#WeToo



Text: BG 

Frauen mit Handicap werden überdurchschnittlich häufig Gewaltopfer

Das Problem ist schnell umrissen, das Leid, das sich dahinter verbirgt, mit Worten nicht zu beschreiben: 75 – 80% aller Frauen mit Handicap werden Opfer körperlicher und/oder sexualisierter Gewalt; häufig beginnt das Martyrium bereits im Kindesalter und hält ihr ganzes Leben lang an.  Am stärksten trifft es Frauen mit psychischen oder Sinnes-Beeinträchtigungen oder eingeschränkter Sehfähigkeit.
Frauen – aber auch Männer und Kinder – mit Handicap leben selten selbstbestimmt, ihnen wird keine Privatsphäre zugestanden, sie haben keinen Einfluss auf die Wahl des medizinischen oder Pflege-Personals. Vor allem die Frauen entsprechen  in vielen Fällen nicht der gängigen Vorstellung einer „begehrenswerten“ Frau, so dass ihnen  wahlweise sexuelle Übergriffe nicht geglaubt werden – oder aber es heißt: „Sie soll doch froh sein, dass sie überhaupt einen abkriegt.“
Die Täter leben in den allermeisten Fällen im direkten Umfeld: Angefangen bei der Familie über Pflegepersonal bis hin zu Mitbewohnern in Heimen. Die Möglichkeit, sich zu wehren, haben die Betroffenen in vielen Fällen nicht.
Oft sind sie nicht einmal in der Lage, das ihnen zugefügte Leid zu artikulieren. Folglich fehlen ihre Stimmen auch in der aktuellen Sexismus-Debatte unter dem Hashtag #metoo, der Frauen und Mädchen die Möglichkeit bietet, die persönliche Betroffenheit zu signalisiert. Doch Frauen mit Handicap, insbesondere mit psychischen oder Sinnes-Beeinträchtigungen, können diese Möglichkeit in vielen Fällen nicht nutzen. Zeit, auch ihnen eine Stimme zu verleihen: Die Beratungsstelle „Allerleirauh“ macht (sexualisierte) Gewalt gegen Frauen mit Handicap zum Thema in der „Woche der Inklusion“.

Die Zahlen sind generell erschreckend:

Laut einer Studie (Stand 2014) des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
-          Haben 40% aller Frauen in Deutschland seit ihrem 16. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt;
-          25% der in Deutschland lebenden Frauen Gewalt durch aktuelle oder frühere Beziehungspartner erlebt (häusliche Gewalt);
-          13% der in Deutschland lebenden Frauen seit dem 16. Lebensjahr strafrechtlich relevante Formen sexueller Gewalt erlebt;
-          42% der in Deutschland lebenden Frauen psychische Gewalt erlebt, z.B. Einschüchterung, Verleumdungen, Drohungen, Psychoterror;
-          Wird Gewalt gegen Frauen überwiegend durch Partner oder Ex-Partner und im häuslichen Bereich verübt.
-          Sind Frauen in Trennungs- oder Scheidungssituationen besonders gefährdet, Opfer von Gewalt durch den (Ex)Partner zu werden.
-          Hat mehr als die Hälfte der von körperlicher Gewalt betroffenen Frauen körperliche Verletzungen aus Übergriffen davongetragen, von diesen ein Drittel deshalb medizinische Hilfe in Anspruch genommen.
-          Haben je nach Gewaltform 56% bis 80% der Betroffenen psychische Folgebeschwerden davongetragen (Schlafstörungen, Depressionen, erhöhte Ängste etc.). Besonders hoch war der Anteil bei psychischer und bei sexueller Gewalt.
-          Sind Kinder oft von Anfang an in das Gewaltgeschehen gegen die Mutter involviert. 20% derjenigen Frauen, die in ihrer letzten Partnerschaft Gewalt erlebt haben, gaben die Geburt als das gewaltauslösende Ereignis an, weitere 10% die Schwangerschaft.
-          Markiert Gewalt im Leben der Frauen oft einen Bruch mit den gewohnten Beziehungs- und Lebensbezügen, auch wenn der Täter nicht der Partner ist (z.B. Trennung, Wohnungswechsel, Kündigung des Arbeitsplatzes).
-          Haben 37% der von körperlicher und 47% der von sexueller Gewalt Betroffenen mit niemandem darüber gesprochen. Die Anteile sind noch höher, wenn der Täter der aktuelle oder frühere Beziehungspartner ist. Wenn Frauen über die erlebte Gewalt sprechen, dann zuerst und am häufigsten mit Personen aus ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld.
Das liest sich wie die Vorlage zu einem Horrorfilm, doch die Lage von Frauen und Mädchen mit Handicap ist noch katastrophaler: Laut einer Studie des „Interdisziplinären Zentrums für Frauen- und Geschlechterforschung der Universität Bielefeld (IFF)“ aus dem Jahr 2012 haben „68–90 % der Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen über psychische Gewalt und psychisch verletzende Handlungen im Erwachsenenleben berichtet (im Vergleich zu 45 % der Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt); gehörlose und blinde sowie psychisch erkrankte Frauen waren davon mit 84–90 % am häufigsten betroffen“.

Die Studie

Zwischen 2009 und 2011 wurden Frauen zwischen 16 und 65 Jahren mit unterschiedlichen Handicaps (z. B. Frauen mit Lernschwierigkeiten oder Sinnesbeeinträchtigungen) befragt.
„Ziel der Studie war es, bestehende Wissenslücken über das Ausmaß von Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu schließen und eine solide empirische Basis für gezielte Maßnahmen und Strategien gegen Gewalt und Diskriminierung von Frauen mit Behinderungen zu schaffen.“ 

Die Ergebnisse wurden auf einer Fachtagung am 22.11.2011 vorgestellt:
-          Frauen mit Handicap haben ein stark erhöhtes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden: Mit 58 bis 75 % haben fast doppelt so viele Frauen im Erwachsenenalter körperliche Gewalt erlebt als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt (mit 35 %).
-          Von sexueller Gewalt im Erwachsenenleben waren die Frauen der Befragung etwa zwei- bis dreimal häufiger betroffen als der weibliche Bevölkerungsdurchschnitt (21-44 % versus 13 %).
-          Gewalterfahrungen in Kindheit und Jugend tragen maßgeblich zu späteren gesundheitlichen und psychischen Belastungen im Lebensverlauf bei: Sexuelle Übergriffe in Kindheit und Jugend durch Erwachsene gaben 20 bis 34 % der befragten Frauen an. Sie waren damit etwa zwei – dreimal häufiger davon betroffen als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt (10 %).
-          Psychische Gewalt und psychisch verletzende Handlungen in Kindheit und Jugend durch Eltern haben etwa 50 bis 60 % der befragten Frauen erlebt (im Vergleich zu 36 % der Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt).

Befragt wurden “insgesamt 1.561 Frauen im Alter von 16 bis 65 Jahren mit und ohne Behindertenausweis, die in Haushalten und in Einrichtungen leben und die starke, dauerhafte Beeinträchtigungen und Behinderungen haben. Über einen repräsentativen Haushaltszugang wurden 800 Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen erreicht …
Im Rahmen der repräsentativen Einrichtungsbefragung wurden, ebenfalls nach einem systematisierten Zufallsverfahren, insgesamt 420 Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen an den 20 bundesweiten Standorten befragt. Es handelte sich dabei um:
-          318 Frauen mit sogenannten geistigen Behinderungen, die mit einem vergleichbaren Fragebogen in vereinfachter Sprache von spezifisch geschulten Interviewerinnen befragt wurden;
-          102 Frauen mit zumeist psychischen Erkrankungen, in wenigen Fällen auch schwerstkörper- oder mehrfachbehinderte Frauen, die mit dem allgemeinen Fragebogen befragt wurden.
Darüber hinaus wurde eine nichtrepräsentative Zusatzbefragung in Haushalten durchgeführt, um einige wichtige Befragungsgruppen in ausreichend hoher Fallzahl in der Studie zu repräsentieren. Die hierfür befragten 341 seh-, hör- und schwerstkörper-/mehrfachbehinderten Frauen wurden größtenteils über Aufrufe in Zeitungen und Zeitschriften sowie über Lobbyverbände und Multiplikatorinnen bzw. Multiplikatoren, teilweise auch über Versorgungsämter gewonnen. Es handelte sich um 28 blinde/stark sehbehinderte Frauen, 30 schwerstkörper- und mehrfachbehinderte Frauen und 3 gehörlose/stark hörbehinderte Frauen, die in Deutscher Gebärdensprache (DGS) von einem Team von durchgängig gehörlosen Interviewerinnen, koordiniert und geschult von ebenfalls gehörlosen/schwerhörigen Wissenschaftlerinnen, befragt wurden.
Zusätzlich zu diesen quantitativen Befragungen mit einem strukturierten Fragebogen wurden in einer sich anschließenden qualitativen Studie 31 von Gewalt betroffene Frauen mit unterschiedlichen
Behinderungen in Haushalten und Einrichtungen mit einem offenen Interviewleitfaden befragt, um vertiefende Erkenntnisse über das individuelle Gewalterleben und die Erfahrungen mit und Erwartungen an Unterstützung zu gewinnen.“
Fazit: „Die in der Studie befragten Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen waren im Lebensverlauf allen Formen von Gewalt deutlich häufiger ausgesetzt als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt, die im Rahmen der repräsentativen Frauenstudie 2014 befragt worden
waren (siehe oben).  Auffällig sind die hohen Belastungen insbesondere durch sexuelle Gewalt in Kindheit, Jugend und auch im Erwachsenenleben der Befragten. Die im Lebensverlauf am höchsten von Gewalt belastete Gruppe der repräsentativen Befragungen sind Frauen mit psychischen Erkrankungen, die in Einrichtungen leben. Bei  den Frauen der Zusatzbefragung waren die gehörlosen Frauen deutlich am häufigsten, insbesondere von sexueller Gewalt in Kindheit, Jugend und Erwachsenenleben betroffen.
In der Studie wird der wechselseitige Zusammenhang von Gewalt und gesundheitlicher Beeinträchtigung/Behinderung im Leben von Frauen sichtbar. Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen haben nicht nur ein höheres Risiko, Opfer von Gewalt zu werden; auch umgekehrt tragen (frühere) Gewalterfahrungen im Leben der Frauen häufig zu späteren gesundheitlichen und psychischen Beeinträchtigungen und Behinderungen bei“.

Mangelnde Hilfsmöglichkeiten

Die Organisation „Weibernetze.V. – politische Interessensvertretung behinderter Frauen“ spricht von „struktureller Gewalt“, der die Frauen ausgesetzt seien: „In Einrichtungen der Behindertenhilfe ist es nur sehr begrenzt möglich, im Alltag selber über sein Leben zu bestimmen und Grenzen zu setzen. In der Regel können weder die Person, die bei der Intimpflege hilft, noch die Zeit und Zubereitung des Essens, gruppeninterne Tagesabläufe etc. bestimmt werden. Hinzu kommen Strukturen, wie nicht abschließbare Toiletten oder Duschen, fehlende Intimsphäre in Mehrbettzimmern und Umkleideräumen, fehlende Sexualaufklärung und Gewaltprävention.
Durch all diese Faktoren wird das Vorkommen von Gewalt im großen Maße begünstigt. Sei es durch Mitarbeiter in den Einrichtungen oder durch behinderte Kollegen, die Übergriffe und sexuelle Gewalt auf den Toiletten von Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) ausüben, um nur ein Beispiel zu nennen“. 
Selbst wenn das Problem erkannt wird, ist es schwierig, Abhilfe zu schaffen: Die Behinderten-Einrichtungen sind nicht auf die durch die Gewalterfahrung entstandenen Traumata eingerichtet, die Spezialkliniken nicht auf Patientinnen mit Handicap. Auch gibt es viel zu wenig barrierefreie Frauenhäuser.

„Lena“ – ein „schwieriger“ Fall

Der SPIEGEL schilderte im Dezember 2014 den Fall einer jungen Frau aus Hamburg. „Lena“, so wird sie in dem Artikel genannt, galt als „schwieriger“ Fall. Die Ursache für ihr ungewöhnliches Verhalten, sie war bereits in der Kindheit, später als Jugendliche und auch als junge Erwachsene massiver sexualisierte Gewalt ausgesetzt,  wurde erst herausgefunden, als sie schon erwachsen war. 
„Lena“ hatte Glück im Unglück: Die Mutter eines Freundes schöpfte Verdacht und brachte sie in Kontakt mit der Sozialpädagogin Bärbel Mickler, die an der oben zitierten Bielefelder Studie mitgearbeitet hat. Mit deren Unterstützung brachte „Lena“ sogar einen Fall vor Gericht. Doch laut SPIEGEL scheiterte am Ende  das Verfahren: „´Lena` wurde als unglaubwürdig eingestuft, der Angeklagte wurde freigesprochen. Das passiert behinderten Frauen oft, weiß Julia Zinsmeister, Professorin am Institut für Soziales Recht der Fachhochschule Köln. ´Gemessen an der Zahl der Übergriffe kommt es äußerst selten zu Strafanzeigen und noch seltener zu Verurteilungen`, sagt sie. ´Im Strafverfahren ist das Tatopfer meist die einzige Zeugin, ihre Aussage bietet die Hauptangriffsfläche für die Strafverteidigung. Den hohen Anforderungen können viele Verletzte nicht entsprechen und scheitern im Verfahren`".
Dafür, dass das in Zukunft anders wird, setzen sich u.a. Beratungsstellen ein. Dort bieten Fachfrauen Betroffenen und ihren Familien Unterstützung an.Doch auch für sie ist es schwierig, die Betroffenen zu erreichen. 
 

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