Wunsch ignoriert Wirklichkeit


Text: BG

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung und ihr romantisches 
Bild der Muslimbruderschaft
Manche Dinge sind so absurd, dass mein Verstand sich schlicht weigert, sie zu glauben. Dazu gehört u.a. der programmatische Ansatz der Rosa Luxemburg-Stiftung „MitIslamisten reden“, bzw. die Themenreihe „Dialog mit dem politischen Islam“. Herausgegeben von Tanja Tabbara, Leiterin des Afrika-Referats der Stiftung, Peter Schäfer, Leiter des Nordafrika-Büros in Tunis und Wilfried Telkämper, Direktor des Zentrums für internationalen Dialog und Zusammenarbeit (ZID) der RosaLux, mit Texten u.a. von Werner Ruf, Stiftungsmitglied und Vertrauensrat sowie Ivesa Lübben, Heidi Reichinnek und Julius Dihstelhoff vom Centrum für Nah- und Mittelost-Studien (CNMS) an der Phillips-Universität Marburg. Außerdem Interviews mit diversen AkteurInnen in verschiedenen Ländern, MitarbeiterInnen der Niederlassungen der RosaLux-Stiftung, JournalistInnen, PolitikerInnen und WissenschaftlerInnen.
In den Materialien zur Themenreihe artikuliert die RosaLux-Stiftung ihr Anliegen, den „Dialog zwischen islamistischen und linken Aktivistinnen“ im „Nahen Osten und in Nordafrika“ forcieren zu wollen. Als linke Organisation, die in der Region agiere, sei es wichtig, bei der Bewertung der verschiedenen politischen islamischen Bewegungen „die eurozentristische Brille“ abzusetzen und die jeweilige Organisation vor dem Hintergrund der Kolonialisierung und dem historischen Kontext, in dem diese entstanden sei sowie die Entwicklung, die sie durchlaufen habe, zu beurteilen. Als Vordenker eines modernen mit der Demokratie kompatiblen Islams wird Rashed Al-Ghanushi präsentiert, Vorsitzender der tunesischen Ennahda-Partei und Mitglied im „European Council for Fatwa and Research“, einem Kontrollgremium der Muslimbruderschaft, dem es obliegt, die Einhaltung der Scharia in den muslimischen Communities in der europäischen Diaspora zu überwachen. 
Werner Ruf widerspricht dem zwar in einem Text, sein Einwand wird indes als … ihr ahnt es schon … „eurozentristisch“ abgetan.
Die linken Kräfte in der Region kommen nicht besonders gut weg: „Für die Linke und andere Kräfte, die für Säkularismus bzw. Laizismus eintreten, war die Vernachlässigung der gesellschaftlichen Funktion und Rolle von Religion einer der Gründe für schwindende Popularität in Ländern der arabischen Welt und darüber hinaus. Religiöse Kräfte sind in vielen sozialen Bereichen aktiv und vertreten zum Teil Positionen, die auch Linke befürworten.“
Das zu ändern, scheint die RosaLux-Stiftung als ihren Auftrag zu begreifen. Als Vorbild dient dazu die „Gemeinsame Liste“ in Israel, einer Wahlallianz aus Linken und IslamistInnen.
„Angesichts der neuen Sperrklausel und der unerwarteten Neuwahlen im März 2015 infolge einer Regierungskrise blieben den vier unterschiedlichen Parteien, die hauptsächlich die israelischen PalästinenserInnen vertreten, nur wenige Wochen, um über ihre Zukunft zu entscheiden. Am Ende beschlossen sie die Bildung einer gemeinsamen Plattform mit dem Namen Gemeinsame Liste, an der sich die folgenden Parteien beteiligten:
– die arabisch-jüdische Plattform Chadasch/al-Dschabha (Demokratische Front für Frieden und Gleichheit), deren wichtigster Bestandteil die Kommunistische Partei Israels ist;
– die linksliberale, aber nationalistische Balad/al-Tadschamu‘ (Nationales demokratisches Bündnis), deren Hauptforderung die Idee einer kulturellen Autonomie für die palästinensischen BürgerInnen Israels ist;
– die konservative Vereinigte Arabische Liste, deren wichtigster Bestandteil der sogenannte südliche Flügel der Islamischen Bewegung ist; – sowie die liberale Ta’al (Arabische Erneuerungsbewegung), die hauptsächlich durch ihren charismatischen Anführer Ahmad Tibi bekannt wurde, der in der Vergangenheit mit jeder der drei anderen Parteien bereits Bündnisse eingegangen war.“
Die in Frankreich aufgewachsene tunesische Muslimschwester Saida Ouniss, Staatssekretärin für Berufsbildung im Arbeitsministerium, Mitglied in der Ennahda-Partei, wartet schließlich in einem Interview noch mit einem originellen Vorschlag für Europa auf: Stärkere Einbeziehung der MuslimInnen in das politische Geschehen.
„Sie plädiert für die Einbeziehung und stärkere politische, auch vermittelnde Rolle muslimischer (und anderer religiöser) Gemeinschaften in europäischen Gesellschaften. Ounissi sieht gläubige MuslimInnen innerhalb eines christlich-geprägten Europas mit als treibende Kräfte für die Wiederbelebung humanistischer moralischer Werte in einer Zeit, in der Sinn- und Wertekrisen dominieren, religiöse Werte als politische Leitlinien nicht mehr salonfähig sind, das Vertrauen in demokratische Institutionen abnimmt und die Suche nach moralischen Maßstäben derzeit in vielen Ländern zu einer Renaissance nationalistischer Strömungen führt.“
Alles in allem herrscht in der Rosa-Luxemburg-Stiftung offenbar die Vorstellung vor, die muslimischen Fundis seien getragen von islamischer Nächstenliebe und die Muslimbruderschaft betriebe so eine Art maghrebinische Befreiungstheologie. Was allerdings Frauen in Mittel- und Lateinamerika von der Befreiungstheologie halten, das könnten z. B. Frauen in Nicaragua schildern, die um ihr Recht auf Schwangerschaftsabbruch kämpfen. Aber, so schreiben Ivesa Lübben, Heidi Reichinnek und Julius Dihstelhoff: „In der arabischen Welt geht es heute jedoch um tiefer greifende Fragen“ als um „Genderfragen“.

Nicht über den Islam, sondern „mit Islamisten“ reden
Die gute Botschaft vorweg: Die unterdessen stabile Lage der Partei DIE LINKE, an die die Stiftung angebunden ist, ermöglicht es, ihren Aktionsradius im Nahen Osten und in Nordafrika zu erweitern: „Der internationale Bereich (Zentrum für internationalen Dialog und Zusammenarbeit/ZID) der Rosa-Luxemburg-Stiftung wird sich zukünftig mehr als bisher mit den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen in muslimisch geprägten Ländern beschäftigen können. Und dies nicht nur in Kooperation mit regionalen Partnerorganisationen von der Zentrale in Berlin aus, sondern auch durch verstärkte Präsenz vor Ort. Ein Grund dafür sind die stabilen Zuwendungen des Bundeshaushaltes für die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Aufgrund der Wahlergebnisse der Partei DIE LINKE, insbesondere bei der letzten Bundestagswahl, kann nun das weltweite Netzwerk von Regionalbüros konsolidiert und ausgebaut werden.“
Hmmm … Weltweit NGOs zu finanzieren und so aktiv in die politische Entwicklung in der jeweiligen Region einzugreifen, wird dem US-amerikanischen Milliardär George Soros – vor allem von Linken – vorgeworfen und scharf kritisiert. Was ist nun der Unterschied zwischen einem US-Milliardär und einer linken Stiftung, wenn beide im Kern dasselbe tun – und dasselbe wollen: Nämlich korrigierend in politische Entwicklungen fern ihrer Herkunftsregion eingreifen? Außer dass George Soros diese politische Intervention mit seinem Vermögen finanziert und die RosaLux-Stiftung mit Steuergeldern?
„Soll sich eine linke Stiftung mit Islamismus beschäftigen?“ wird eingangs gefragt.
„Die terroristischen Anschläge des ´Islamischen Staates (IS) in Paris, Beirut und Istanbul sowie die sexuellen Übergriffe in Köln durch ´nordafrikanische Männer` in der Silvesternacht 2015 haben das Thema Islam und Muslime einmal mehr in den Vordergrund gerückt. Aber auch ohne diese extremen Negativbeispiele sind Muslime und der Islam mittlerweile fester Bestandteil des politischen
Diskurses in Deutschland.
Die Debatte währt bereits mindestens zwei Jahrzehnte. Auffällig ist, dass sie immer noch von starker Stereotypisierung und von Vorurteilen geprägt ist. Die Tendenz zur Verallgemeinerung mag zwar psychologisch verständlich sein, da Identitätsfindung immer auch über Abgrenzung funktioniert. Sie muss aber von Institutionen der politischen Bildungsarbeit hinterfragt werden. Gerade in Zeiten,
in denen extreme Gefühle wie Angst (vor dem Islam, vor Terror, vor ´zu vielen` Flüchtlingen) den politischen Diskurs in Deutschland bestimmen, sollte eine kritische linke Stiftung Analysen und Positionen anbieten, die einen rationalen und differenzierten Zugang zum Thema ermöglichen.“
Nach Ansicht der RosaLux-Stiftung ist es fatal, dass im Westen Debatten zum Thema über den Islam, statt mit MuslimInnen geführt würden. Deshalb hat die Stiftung sich auf die tunesische Ennahda-Partei, deren Vorsitzenden Rashed al-Ghanushi sowie weiterer Mitglieder kapriziert. Im Kern läuft es darauf hinaus, dass die Muslimbruderschaft und die mit ihr verbundenen Organisationen als Wohlfahrtsorganisation begriffen werden, die an linke Bewegungen erstens andocken, weil das soziale Moment bei beiden im Vordergrund steht, und sie die ländlichen Regionen und den prekarisierten Teil der Bevölkerung repräsentieren.



Nur nicht hysterisch werden
Während „bedeutende Teile der arabischen Linken und damit potenzielle Partner der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die mit der deutschen Linken persönliche Freiheitsideale und ein säkulares Weltbild teilen, entstammen demgegenüber den urbanen Eliten, denen aufgrund ihres sozialen Status und westlichen Habitus die Anbindung an die Unterschichten und marginalisierten unteren Mittelschichten fehlt.“
Die Lobhudelei des islamischen Fundamentalismus, dessen Bandbreite nahezu unerschöpflich sei und selbst bis ins sozialistische Lager reiche, gipfelt in der Behauptung: „Einmal abgesehen von einigen unbelehrbaren salafistischen Scheichs, sind islamistische Ideologien offene Ideologien, die auch westlichen Konzepten Raum lassen.“
Allerdings gibt ein Teil der Linken nach Ansicht der RosaLux-Stiftung auch Anlass zur Hoffnung. So wird die Kritik der ägyptischen „Revolutionären Sozialisten“ (RS) an der ägyptischen Linken zitiert: „Die Verteidigung der Rechte der Muslimbruderschaft gegen die brutale Diktatur sei Teil des
Kampfes für Demokratie und für die Rückkehr zur ägyptischen Revolution. Diese Tatsache
verkannt zu haben, habe zur Marginalisierung der Linken beigetragen. Die Muslimbruderschaft
repräsentiere ein breites Spektrum sozialer Klassen. Darin sehen die RS den Grund für ihre oft widersprüchlichen, einerseits reformistischen, andererseits revolutionären Strategien.
Es gebe aber Strömungen innerhalb der Muslimbruderschaft, die sich am Kampf für Demokratie und gegen Korruption, Tyrannei und soziale Ungerechtigkeit beteiligten. Der Feind der Revolution sei die Militärdiktatur, nicht die Muslimbruderschaft. Dies könne nur durch eine breite Front überwunden werden, die offen sei für junge Islamisten, die ´tagtäglich der Maschine der Repression ausgesetzt sind`. Eine solche Front dürfe sich nicht von Islamophobie und der ´Hysterie der islamistisch-säkularen Konfrontation` infizieren lassen.“
Das erklärt für mich auch, warum weite Teile der Linken und LINKEN-PolitikerInnen in Deutschland den Schulterschluss mit den islamischen Fundis suchen. Sie unterstellen gemeinsame soziale Ideale, der Kampf gegen Rassismus wird als Teil der sozialen Kämpfe begriffen und da vor allem fundamentale MuslimInnen es bestens verstehen sich immer als arme verfolgte Unschuld zu stilisieren, sozusagen das Paradebeispiel der Rassismusopfer, unterliegen Linke der irrigen Annahme, mit ihnen zusammen für eine „offene und freie“ Gesellschaft kämpfen zu können. Hilfreich dabei ist die kulturrelativistische Ansicht, alle Kulturen seien gleichwertig.
Vorbild für die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie RashedAl-Ghanushi „tritt für gleiche Rechte und Freiheiten auf der Grundlage des Islam ein.“
Klingt toll, super demokratisch. Aber was genau heißt das? Seinen Schriften zufolge schwebt ihm ein islamischer Staat vor, in dem – entgegen der jetzigen Praxis – andere, nicht-muslimische Lebensweisen und Glaubensrichtungen akzeptiert und gleichwertig behandelt werden sollen. Sie alle sollen die gleichen Rechte haben, die aber unterschiedlich aussehen können: Es sei nicht einzusehen, so Rashed al-Ghanushi, dass Nicht-Muslimen der Verzehr von Alkohol verboten werde, ebenso wenig wie Muslimen die Scheidung.
Warum um alles in der Welt sollte Muslimen die Scheidung verboten werden, mag sich jetzt manche/r fragen. Ganz einfach: Weil im islamischen Familienrecht, dem Kernstück der Scharia, die Frauen quasi rechtlos sind. Männer können ihre Frauen verstoßen, häufig haben diese dann nicht einmal mehr ein Recht auf ihre Kinder, die selbstverständlich dem Vater zugesprochen werden, geschweige denn auf finanzielle Unterstützung.
Das Problem mit der islamischen Scheidung fängt allerdings schon lange vorher an: Nämlich bei der Eheschließung. Auch wenn die Scharia kein statisches Konzept ist und von Land zu Land unterschiedlich gehandhabt wird, so sind im Allgemeinen den Männern bis zu vier Ehefrauen erlaubt – sofern er diese finanzieren kann. Außerdem ist das Heiratsalter bei Frauen sehr unterschiedlich. Mancherorts offiziell, vielfach jedoch inoffiziell, gelten 9jährige als heiratsfähig. Kinderehen, von Imamen geschlossen, sind keine Seltenheit in islamischen Ländern. Im Iran wurde eigens die „Ehe auf Zeit“ erfunden, die zeitlich variabel ist, um Prostitution zu leglaisieren. Eine Praxis, die vom IS übernommen wurde.
Mit anderen Worten: Rashed Al-Ghanushis Konzept bedeutet nichts anderes, als im selben Staat für verschiedene Gruppen verschiedene Rechtsgrundlagen zu schaffen. Und wer in die muslimische Weltgemeinschaft hineingeboren wird, für die oder den gilt die Scharia. Pech gehabt. Im Klartext heißt das: Wenn z. B. eine verheiratete muslimische Frau mit einem christlichen Mann eine sexuelle Beziehung eingeht, dann droht ihr die Steinigung, während er nicht belangt wird. Schließlich verbietet ihm sein Glaube diese Beziehung nicht.
Dieses Gesellschaftsmodell wird von der Rosa-Luxemburg-Stiftung als denkbare Grundlage für das friedliche Zusammenleben verschiedener Gruppierungen erachtet. „Die Bedeutung von Ghannouchis
Werk für Diskussionen um die Vereinbarkeit von Demokratie und Islam“ erörtert in einem Interview der libanesische Wissenschaftler Karim Sadek.
Blöd nur, dass in nahezu allen islamischen Staaten ChristInnen und Angehörige anderer Konfessionen sowie Konfessionslose verfolgt werden, in Ägypten z. B. die KoptInnen, es in kaum einem islamischen Land eine jüdische Population gibt und „Abfall vom Glauben“, Apostasie, eine
Todsünde im Islam ist. So dass sich, egal welche Fortschritte vielleicht tatsächlich für Minderheiten erreicht würden, für Muslime, insbesondere für Musliminnen, überhaupt nichts ändern würde. Aber das kümmert die RosaLux-Stiftung wenig: Normative Differenzen gebe es „zweifelsohne in Genderfragen, bei der Definition von persönlicher Freiheit oder Debatten über den Säkularismus. Linke heben darüber hinaus hervor, dass Islamisten vor allem Mittelschichten vertreten und deswegen keine klare antikapitalistische Agenda hätten. In der arabischen Welt geht es heute jedoch um tiefer greifende Fragen.“
Da ist er wieder, der gute, alte Nebenwiderspruch.

Ennhada – Teil der Geschichte des fundamentalen Islams in Tunesien
Laut Wikipedia ging die Ennahda-Partei aus der Vorgängerpartei Mouvement de la Tendence Islamique (MIT) hervor. Deren „Geschichte ist eng mit der Entwicklung des Islamismus in Tunesien verwoben, sodass die Geschichte Ennahdas zugleich in großen Teilen die Geschichte des politischen Islams in Tunesien ist.

Die Forderungen des MTI ließen sich in fünf wesentlichen Punkten zusammenfassen:
1. Wiederbelebung des islamischen Charakters Tunesiens
2. Wiederbelebung des islamischen Denkens in Tunesien
3. Bekämpfung von Vetternwirtschaft und ausländischem Einfluss
4. Schaffung eines Sozialsystems, beruhend auf Privateigentum
5. Kampf dem Imperialismus auf dem Wege der Förderung der politischen und kulturellen Einheit auf allen Ebenen.

Am 1. März 2011 legalisierte die tunesische Übergangsregierung im Zuge einer Generalamnestie auch Ennahda (nachdem die MIT Ende der 1980er verboten worden war, Anm. d. Verf.) und zehntausende von Anhängern wurden aus dem Gefängnis entlassen. Ennahda baute innerhalb kurzer Zeit eine funktionierende Struktur von regionalen Untergliederungen und Jugend- sowie Frauenorganisationen auf. Bereits am 30. Januar 2011 war Raschid al-Ghannuschi und Beifall von Ennahdaanhängern aus dem Exil zurückgekehrt. Die Partei galt danach als bestorganisierte und am breitesten aufgestellte Partei des postrevolutionären Tunesiens und ihre plötzliche Mobilisierungsfähigkeit nach zwei Jahrzehnten der Abwesenheit überraschte viele Beobachter. Die Gründe hierfür liegen zum einen in den Netzwerken der Partei, die auf persönlicher Ebene klandestin weitergepflegt wurden. Zum anderen wurde der Aufbauprozess durch die Unterstützung eines Netzes neuer Akteure beschleunigt, die verschiedenen islamischen Graswurzelbewegungen angehörten. Diese Bewegungen hatten sich insbesondere in den 2000er Jahren entwickelt. Zwar hatten sie ursprünglich nur minimalen Kontakt zu Ennahda, teilten jedoch deren Vision einer islamischen Identität Tunesiens. Die Akteure dieser Bewegungen hatten zudem in den Jahren Ennahdas Präsenzlosigkeit verschiedene Bildungs- und Sozialalinitiativen aufgebaut, deren Organisationen vor allem als Sozialdienstleister auftraten und Lücken gefüllt hatten, die der Staat im Zuge neoliberaler Reformen hinterlassen hatte. Dies waren insbesondere Studienkurse, Kindergärten oder Nachmittagsangebote zum religiösen Studium an Schulen. Ihre etablierten Netzwerke und ihre Erfahrung im Organisationsaufbau flossen in die neue Ennahda ein, die auf diese Weise ihre flächendeckend Büros auf kommunaler, regionaler und landesweiter Ebene eröffnen und ihre Parteiränge von der Basis bis an die Parteispitze füllen konnte.“
In einem Interview in der Wochenzeitschrift Jungle World beschreibt Alaya Allani, Professor für zeitgenössische Geschichte an der Universität von Manouba und international bekannter Forscher über den Islamismus im Maghreb, die Ennahda-Partei (hier Al-Nahda) folgendermaßen: „Die Islamisten haben gesagt, sie seien für die Demokratie, die Menschenrechte, die Rechte der Frauen, aber ihr ideologischer Diskurs steht im krassen Gegensatz zu ihrem politischen Diskurs. Al-Nahda steht dem salafistischen Denken nahe.
Geht man auf die ideologische Grundlage von al-Nahda zurück, auf ihre Dokumente, die sie in ihrer Anfangszeit geschrieben hat, so kann man darin lesen, dass al-Nahda sich auf die im 10. Jahrhundert gegründete ascha’ritische Schule bezieht, die eine wörtliche Auslegung des koranischen Textes praktiziert. Aber wie kann man eine wörtliche Auslegung des koranischen Textes und zugleich die Prinzipien der Menschenrechte, der Demokratie, des zivilen Staats verfechten?
Al-Nahda will ein Bündnis mit den demokratischen Kräften und betreibt dies auch unter einem ziemlich effektiven Etikett, dem einer Allianz von Islamisten und Säkularen, in der Regierungskoalition. Und sie will eine Allianz mit den Salafisten. Es gibt ein Video von Rachid Ghannouchi (Rashed Al-Ghanushi), das im Oktober 2012 verbreitet wurde, in dem er sagt, die Salafisten sind unsere Kinder, sie kommen nicht vom Mars, und in diesem Video hat er die Sa­lafisten ermutigt, Institutionen, Koranschulen und Vereinigungen zu schaffen. Man müsse sich beeilen, weil man weder die Polizei noch die Armee kontrolliere.
Al-Nahda hat drei salafistische Parteien legalisiert, die die demokratischen Regeln des politischen Spiels nicht anerkennen, außerdem die Partei Hizb al-Tahrir, die dem radikalen Islam angehört. Zudem haben die Islamisten mehr als 200 karitative Vereinigungen legalisiert, die den Salafisten und den Muslimbrüdern nahestehen. Al-Nahda hat also alles getan, um eine salafistische undislamistische Welt zu schaffen, die ihr nahesteht.
...
In den höchsten Gremien von al-Nahda dominieren Hardliner.“ Es sei viel Geld aus dem Orient nach Tunesien geflossen, um diese salafistischen Tendenzen zu unterstützen. Mittlerweile existierten
Koranschulen und sogar Korankindergärten, die Prinzipien vermittelten, die keine lokale Tradition hätten."

Die RosaLux und das Frauengedöns
Was Alaya Allani als großes Problem erachtet, wird von der RosaLux-Stiftung als Wohlfahrtsorganisation verklärt: „Für Islamisten ist dies nicht nur programmatisches Versprechen, sondern Bestandteil ihrer sozialen Praxis. In Ländern, in denen sie legal oder halblegal operieren können oder konnten – wie in Ägypten bis zum Militärputsch 2013 oder in Jordanien –, haben Muslimbrüder ein landesweites Netz von Sozialorganisationen, Kindergärten, Krankenhäusern und Schulen aufgebaut. Sie organisieren Nachhilfe für schwache SchülerInnen, Rechtsberatung oder Familienmoderation. Auch Salafisten sind aus den gleichen Überzeugungen in diesen Bereichen aktiv und opfern dafür einen großen Teil ihrer Freizeit. Diese Basisaktivitäten waren ein wichtiger Grund für die Wahlerfolge nach 2011.“
Diese „Basisaktivitäten“ dienen vor allem einem Ziel: Zugang zu den Menschen zu bekommen, Anhänger – auch Gotteskrieger – zu rekrutieren und soziale Kontrolle auszuüben. Vor allem auf die Frauen.
Die erste palästinensische Intifada 1988 (was immer davon zu halten ist), wurde vor allem von Frauen getragen. Schon bei der 2. Intifada ab September 2000 spielten diese keine Rolle mehr. In diesen paar Jahren hatte es die Hamas, eine Organisation im weltumspannenden Netzwerk der Muslimbruderschaft, geschafft, Frauen vollkommen aus der Öffentlichkeit zu verbannen. 


 Jene Frauen, die Rashed Al-Ghanushi im Juli 2001 in einer Sendung des TV-Kanals Al-Jazeera segnete: „„Ich möchte meine Segenswünsche den Müttern dieser Jugendlichen übermitteln, dieser Männer, denen es gelungen ist, ein neues Gleichgewicht der Kräfte zu erringen…
Ich segne die Mütter, die im gesegneten Palästina den Samen dieser Jugendlichen gepflanzt haben, die dem internationalen System und den von den USA unterstützten arroganten Israelis eine wichtige Lehre erteilt haben. Die palästinensische Frau, die Mutter der Shahids [Märtyrer], ist selbst eine Märtyrerin, und sie hat ein neues Vorbild für die Frau geschaffen.“
Laut Charta der Hamas ist das die Aufgabe von Frauen: Kinder gebären und die nächste Generation Gotteskrieger heranzüchten, bzw. Töchter, die dann ihrerseits die übernächste Generation Gotteskrieger heranzüchten.
Der Film „Paradise now“ demonstriert sehr anschaulich, wie den Frauen jegliche Würde und jegliche Privatsphäre genommen wurde. Selbst zuhause müssen sie sich verschleiern, sofern Männer anwesend sind, oder wenn Besuch kommt. Frauen in fundamental-islamischen Communities haben keine Privatsphäre, keine Möglichkeit, mal die Hüllen fallen zu lassen. Nicht im Iran, nicht in Saudi Arabien, nicht in Gaza und auch nicht in Delmenhorst. Wenn Gürhan Özoğuz, der mit seinem Bruder Yavuz diverse Firmen und u.a. das Internetportal Muslim Markt betreibt und in Delmenhorst mit seiner Familie und der seines Bruders in einem Haus lebt, kündigt einen Besuch bei diesem vorher an, damit die Damen des Hauses, Fatima Özoğuz und Tochter Zahra, sich züchtig verhüllen können.
Aber wie schreiben Ivesa Lübben, Heidi Reichinnek und Julius Dihstelhoff doch so treffend: „In der arabischen Welt geht es heute jedoch um tiefer greifende Fragen“ als um „Genderfragen“.

Wunsch trifft auf Wirklichkeit
In dem Text von Ivesa Lübben, Heidi Richinnek und Julius Dihstelhoff ist zu lesen:„Islamisten sind keine Sozialisten – auch wenn es in der Geschichte der syrischen und ägyptischen Muslimbrüder phasenweise Annäherungen an sozialistische Wirtschaftsmodelle gab. Aber Islamisten unterstützen auch keinen entfesselten Raubtierkapitalismus, sondern eine soziale Marktwirtschaft, die auf starken gesellschaftlichen Kontrollmechanismen, der Umverteilung von Nationaleinkommen zugunsten bedürftiger Schichten und einer starken Rolle des staatlichen Sektors basiert. Es gibt keine einheitliche islamische Wirtschaftstheorie.
Die meisten Wirtschaftsfachleute islamistischer Bewegungen würden sich eher als KeynesianerInnen denn als AnhängerInnen neoliberaler Wirtschaftstheorien sehen.
Die islamische Wirtschaft ist an ethische Normen gebunden, sie begründet eine Art ´moralische
Ökonomie`, wie Edward P. Thompson sie in seiner Geschichte der englischen Arbeiterbewegung
beschrieben hat. Die wichtigsten Prinzipien, die sich mit unterschiedlicher Gewichtung in den Programmen aller moderat-islamistischen Parteien wiederfinden (mit Ausnahme der eher rudimentären Wirtschaftsvorstellungen salafistischer Parteien), sind:
Soziale Gerechtigkeit: ’Adala (Gerechtigkeit) und takaful ijtima’i (gegenseitige soziale Verantwortung) sind zentrale Werte gesellschaftspolitischer islamischer Rechts- und Gesellschaftsvorstellungen. Eine der fünf religiösen Grundpflichten jedes Muslims ist die Entrichtung von zakat, einer Form der Armensteuer. Dabei stellt zakat kein Almosen dar; Arme und Bedürftige haben nach islamischen Rechtsauffassungen vielmehr einen Rechtsanspruch auf Unterstützung. Soziale Gerechtigkeit impliziert in den Gesellschaftsvorstellungen des politischen Islam auch das Recht jedes Menschen auf Arbeit und einen gerechten Anteil am gesellschaftlichen Reichtum.
Zinsverbot: Dem Verbot von riba (je nach Interpretation Zinsen oder Wucherzinsen) liegt das
Prinzip zugrunde, dass nichts verkauft werden darf, das nicht auch real als Ware oder Dienstleistung
existiert, also keine realwirtschaftlichen Vorgänge widerspiegelt. Dazu gehören neben Zinsen auch Spekulationsgewinne, Termingeschäfte, Derivate und Leerverkäufe, Monopolgewinne und Gewinne aus dem Glücksspiel. Islamistische WirtschaftsexpertInnen kritisieren die Verselbstständigung der globalen Finanzwirtschaft, die sich immer mehr vom Warenumschlag gelöst habe. Sie weisen darauf hin, dass islamische Banken weitgehend von den Einbrüchen der internationalen Finanz- und Schuldenkrise verschont geblieben seien. Nach islamischen Vorstellungen darf eine Bank nur dann Gewinne erwirtschaften, wenn sie zugleich bereit ist, auch eventuelle Risiken und Verluste der von ihr finanzierten Geschäfte mitzutragen.“
Vielleicht wäre es vor dem Verfassen solcher Zeilen ratsam gewesen, mal nachzuschauen, was die Namensgeberin der Stiftung zum Thema Religion, bzw. Christentum beizutragen hat. Die setzte sich eingehend damit auseinander, vertrat die Ansicht, dass den Menschen ein Recht auf Glaube zustünde, durchschaute aber, dass Religion, insbesondere das Christentum in seinem historischen Ursprung und seinem historischen Kontext dazu diente, das harte Leben erträglich zu machen, indem die Gebeutelten sich auf ein besseres Leben im Jenseits freuen konnten.
Mit diesem Vertrösten aufs bessere Jenseits und Brot und Spiele wurden die Massen in Schach gehalten, damit sie nicht aufbegehren. Zu dem, was die RosaLux-Stiftung in Bezug auf die Muslimbruderschaft in Begeisterung versetzt, die Almosen, schriebRosa Luxemburg im Hinblick auf das alte Rom, die Sklavenhaltergesellschaft und die völlig verarmte Landbevölkerung:

"Das Christentum ist eine Religion für Sklaven".
"Damals herrschte in Rom Sklaverei, und die Adelsfamilien befriedigten ebenso wie die Reichen und die Financiers alle ihre Bedürfnisse durch die Arbeit von Sklaven, die sie aus dem Krieg mitgebracht hatten. Diese Reichen rafften allmählich fast den ganzen Grundbesitz in Italien an sich, indem sie den römischen Bauern das Land raubten, und da das Getreide kostenlos als Tribut aus den unterworfenen Provinzen herangeschafft wurde, wandelten sie ihren eigenen Grundbesitz in riesige Plantagen, Gemüsegärten, Weinberge, Weiden und Lustgärten um, bestellt von einem großen Sklavenheer, das durch den Stock des Aufsehers zur Arbeit angetrieben wurde. Des Landes und Brotes beraubt, strömte die Landbevölkerung aus der ganzen Provinz in die Hauptstadt Rom, fand hier aber keinen Verdienst, weil auch jedes Handwerk von Sklaven betrieben wurde. So sammelte sich in Rom allmählich eine riesige Volksmenge ohne jedes Eigentum an – ein Proletariat, das jedoch nicht einmal seine Arbeitskraft verkaufen konnte, da niemand seine Arbeit benötigte. Dieses Proletariat also, das vom Lande hereinströmte, wurde nicht wie heute in den Städten von der Fabrikindustrie aufgesogen, sondern mußte in hoffnungslose Not und an den Bettelstab geraten. Da eine solche Vorstädte, Straßen und Plätze Roms füllende Volksmasse, ohne Brot und Dach über dem Kopf, eine ständige Gefahr für die Regierung und die herrschenden Reichen war, mußte die Regierung irgendwie ihre Not lindern. Von Zeit zu Zeit wurden also aus den Regierungsspeichern Getreide oder gleich Lebensmittel an das Proletariat verteilt, um für eine gewisse Zeit sein drohendes Murren zu besänftigen, auch wurden kostenlose Spiele im Zirkus veranstaltet, um Gedanken und Gefühle des erregten Volkes zu beschäftigen." 
(Zitiert aus: Kirche und Sozialismus, verfasst von Rosa Luxemburg unter dem Pseudonym Jozef Chmura, 1905).

Auch ein Blick in die berühmten Blauen Bände hätte helfen können:

"Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen!"
"Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.
Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks: Die Forderung, die Illusionen über seinen  Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.

Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche. Die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch, damit er sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewege. Die Religion ist nur die illusorische Sonne, die sich um den Menschen bewegt, solange er sich nicht um sich selbst bewegt." 
(Zitiert aus: Marx/Engels-Werke, Bd. 1, 378ff.)

 Auch Lenin befasste sich mit dem Thema Religion, er griff die Feststellung auf von Karl Marx, Religion sei das "Opium desVolkes":

"Die Religion ist eine von verschiedenen Arten geistigen Joches, das überall und allenthalben auf den durch ewige Arbeit für andere, durch Not und Vereinsamung niedergedrückten Volksmassen lastet. Die Ohnmacht der ausgebeuteten Klassen im Kampf gegen die Ausbeuter erzeugt ebenso unvermeidlich den Glauben an ein besseres Leben im Jenseits, wie die Ohnmacht des Wilden im Kampf mit der Natur den Glauben an Götter, Teufel, Wunder usw. erzeugt. Denjenigen, der sein Leben lang arbeitet und Not leidet, lehrt die Religion Demut und Langmut hienieden und vertröstet ihn mit der Hoffnung auf himmlischen Lohn. 
Diejenigen aber, die von fremder Arbeit leben, lehrt die Religion Wohltätigkeit hienieden, womit sie ihnen eine recht billige Rechtfertigung ihres ganzen Ausbeuterdaseins anbietet und Eintrittskarten für die himmlische Seligkeit zu erschwinglichen Preisen verkauft. Die Religion ist das Opium des Volkes. Die Religion ist eine Art geistigen Fusels, in dem die Sklaven des Kapitals ihr Menschenantlitz und ihre Ansprüche auf ein halbwegs menschenwürdiges Leben ersäufen."
(Zitiert aus: Wladimir I. Lenin, Sozialismus und Religion, 1905)

Werner Ruf seinerseits widerspricht der Lobhudelei ebenfalls vehement: Der zeitgenössische politische Islam zeichne sich durch den von einem scheinbar unerschütterlichen Glauben getragenen einfachen Slogan aus „al-islam hua al-hal – der Islam ist die Lösung“. Für diese Richtung beinhalteten die in den Quellen vorgegebenen Regeln die (religionskonforme und gerechte, weil gottgewollte) Lösung für alle Fragen der persönlichen Lebensführung, der Gesellschaft und der politischen Ordnung.
„Schon während der unmittelbar auf die Umstürze folgenden Phase wurde deutlich, dass die politischen Entwicklungen in Ägypten und Tunesien keineswegs nur von den inneren Kräften bestimmt wurden: Die finanzstarken Golfstaaten mischten sich massiv ein und versuchten, mit großzügiger Unterstützung, vor allem auch durch die Gründung von Kindergärten und Koranschulen mit strenger Geschlechtertrennung, wie durch die Platzierung von Imamen in den Moscheen, die bis zu den Revolten strenger staatlicher Kontrolle unterlagen, ihrerseits Einfluss zu nehmen“, bekräftigt Werner Ruf die Ausführungen von Alaya Allani.
„Schlaglichtartig soll hier das reale politische Handeln der Islamisten während der Regierungszeit
der den Muslimbrüdern nahestehenden Partei En-Nahda in Tunesien beleuchtet werden“ schreibt Werner Ruf weiter. „Diese hatte nach den Wahlen vom 23. Oktober 2011 gemeinsam mit zwei kleinen säkularen Parteien die Regierung gebildet und sämtliche Schlüsselressorts übernommen.
Aufgrund des oben erwähnten Drucks der Zivilgesellschaft (und wahrscheinlich der Ereignisse in Ägypten) trat die von En-Nahda geführte Regierung am 29. Januar 2014 zugunsten einer von Technokraten geführten Regierung unter Mehdi Jouma’a zurück. Am 27. Februar 2014 hat die Verfassunggebende Versammlung eine Verfassung verabschiedet, die geradezu als Musterbeispiel
für Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Schutz der Menschenrechte gelten kann.
Für viele war verblüffend, wie schnell sich der Westen – in Ägypten wie in Tunesien – auf die
Islamisten als neue und verlässliche Partner einstellte. So erklärte der damalige deutsche
Außenminister Westerwelle, Europa müsse sich daran gewöhnen, dass es ´islamisch-demokratische
Parteien gibt, wie es in Europa christdemokratische Parteien gibt`. Fehlen durfte nicht der Hinweis, dass die EU und Deutschland umfangreiche Investitionen im Gegenzug für ´Reformen` planten. Und in der Tat: Die En-Nahda-Regierung unterzeichnete eine Reihe von Gesetzen, die die letzten Barrieren für die Vollendung des ´fortgeschrittenen Statuts` für Tunesien im Rahmen der EU-Mittelmeerunion beseitigen sollen. Selbst die Ben-Ali-Regierung hatte hier noch Verhandlungsbedarf gesehen. Damit fielen die letzten Beschränkungen für die Herstellung einer vollendeten Freihandelszone. Diese ist aber keineswegs so ´frei`, wie die Prediger des Neoliberalismus behaupten: Der Wegfall der Zölle öffnet der hoch subventionierten europäischen Landwirtschaft neue Märkte, auf denen die einheimische Landwirtschaft oft nicht mehr konkurrieren kann. Umgekehrt wird der freie Zugang zum europäischen Markt für tunesische Produkte (Olivenöl, Zitrusfrüchte) noch immer reglementiert. Im Bereich der Investitionen genießen europäische Firmen oft Steuerfreiheit, zuweilen auf bis zu 20 Jahre, und freien Gewinntransfer. Auch dies benachteiligt tunesische Unternehmen, die nicht in den Genuss solcher Vergünstigungen kommen.
Kurzum: En-Nahda beugt sich voll den ausländischen Wirtschaftsinteressen und befördert noch den neoliberalen Ausverkauf der tunesischen Ökonomie.“
Also eine ökonomische Entwicklung wie in vielen afrikanischen Staaten, die z. B. dazu führt, dass in Europa billig produzierte Tomaten den afrikanischen Markt überschwemmen, die einheimischen Früchte unerschwinglich und die dortigen Produzenten erwerbslos und diese zu Flüchtlingen machen. Die dann auf abenteuerliche Weise nach Europa gelangen, um dort unter sklavenartigen Bedingungen auf den Plantagen zu arbeiten, auf denen das Obst und Gemüse produziert wird, das nach Afrika exportiert dort soziales Elend schafft, dessen Opfer sie sind.
„Alle islamistischen Parteien, die auf der Programmatik der Muslimbrüder aufbauen, betonen immer als politisches Ziel die soziale Gerechtigkeit und führen diesen Begriff meist auch in ihren Parteinamen“, geht Werner Ruf weiter auf die angebliche Wohltätigkeit der islamischen Fundamentalisten ein. „Die Frage bleibt, wie diese zu erreichen ist. Auch hier erfolgt der Rückgriff auf die Religion: Auf einer Tagung in Marburg im Juni 2012, die VertreterInnen der islamistischen Parteien aus der ganzen Region versammelte, erklärte Amer Laareyedh, Leiter des Politbüros von En-Nahda und zuständig für deren Außenbeziehungen (und Bruder des damaligen Innenministers und späteren Ministerpräsidenten), der Islam stelle hierfür alle notwendigen Instrumente bereit: die zaqqat und die awqaf. Die zaqqat verpflichtet die Wohlhabenden, den Armen Almosen zu geben. Sie könnte in der Tat als eine Art Einkommenssteuer gesetzlich geregelt werden. Die awqaf sind religiöse Stiftungen, deren Gelder den Armen und Behinderten zukommen sollen. Hinter diesen Konzepten stehen vorkapitalistische Vorstellungen vom Funktionieren einer im Wesentlichen auf Handel basierenden Ökonomie, in der die Erfolgreichen in der Pflicht sind, den Armen Brosamen vom Tisch der Reichen zu geben. Dass Armut systemisch produziert wird, kommt nicht in den Blick.“
Weil Armut die beste Voraussetzung ist, um Anhänger – gern auch Gotteskrieger – zu rekrutieren und soziale Kontrolle über die Menschen – vor allem die Frauen zu bekommen. Aber wie schreiben Ivesa Lübben, Heidi Reichinnek und Julius Dihstelhoff doch so treffend: „In der arabischen Welt geht es heute jedoch um tiefer greifende Fragen“ als um „Genderfragen“.












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