Ostwestfälischer Morast



Text: BG

Spießige Dorfidylle als Humus für Korruption, Gewalt und Verbrechen, die prächtig gedeihen und im allseitigen Interesse vertuscht werden


Geboren wurde ich in einer kleinen Stadt in Ostwestfalen-Lippe (OWL), in der – vermutlich einmalig auf der Welt – zumindest ein Mal im Jahr das mit Felsquellwasser gebraute Bier aus dem Brunnen fließt. Aufgewachsen bin ich in einem Paar-Hundert-Seelen-Kaff einige Kilometer über den Berg und wieder herunter entfernt von dieser kleinen Stadt.
Einem kleinen Dorf, dominiert von einer knappen Handvoll Landwirten, einem kleinen Wald, Getreidefeldern, Wiesen mit und ohne Kühe drauf, Bauern- und vor allem Einfamilienhäusern mit kleinem Garten. Barre und Grünkohl, das ist für mich Heimat. Barre, Grünkohl und Camping. Ebenso Wald und Dampfloks, mit denen wir vor Weihnachten in die große weite Welt hinaus fuhren. Nach Bielefeld. Bielefeld war für mich als Kind der Inbegriff von Großstadt, zu laut, zu dreckig, zu viele Menschen, zu viele Autos, zu große Geschäfte, in denen ich regelmäßig wegen der schlechten Luft – und vielleicht auch vor Aufregung - umkippte.
Kurzum, ich war, ich bin, ich werde immer sein: Ostwestfälin. Dort verbrachte ich knapp die ersten 30 Jahre meines Lebens, dort wurde ich geprägt. Das ist auch nach 30 Jahren Hamburg nicht anders, obwohl ich mittlerweile länger in Hamburg lebe, als ich in OWL gelebt habe.

Alle hängen mit drin
Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, dass diese Idylle ihre Schattenseite hat(te). Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass sexuelle Übergriffe als normal galten, über Sexualstraftaten, auch schwere Verbrechen, geflissentlich hinweg gesehen wurde, ebenso wie über häusliche Gewalt oder über Alkoholismus.
Es wurde getratscht, gemobbt (am liebsten die Opfer) und innerhalb der Dorfgemeinschaft auch ausgegrenzt – aber nichts unternommen. Die Opfer wurden sich selbst überlassen, oder – im Falle von Sexualdelikten – als die eigentlich Schuldige ausgemacht: Der Rock war zu kurz, sie hat aufreizend mit ihm getanzt, sie hat Alkohol getrunken, usw., usf., Ihr kennt das.
In diesem Gefüge hatte quasi jede/r – im übertragenen Sinn – eine Leiche im Keller. Sei es wegen Alkoholexzessen, weil die Garage eigentlich gar nicht hätte gebaut werden dürfen, weil das Auto plötzlich so komische Beulen hatte, über deren Herkunft sich geflissentlich ausgeschwiegen wurde, weil auch die eigene Ehefrau gelegentlich „gegen eine Tür“ gelaufen war. Die Aggressionen unter- und gegeneinander wurden alljährlich in Form von Zeltfestschlägereien abgebaut. Der Außenwelt gegenüber wurde das Idyll, die verschworene Gemeinschaft präsentiert.
Es sind im Prinzip mafiöse Strukturen, in denen Korruption, Gewalt und auch Verbrechen gedeihen.
Detlef Buck hat einen vordergründig witzigen Film darüber gemacht, in dem er diese dörflichen Strukturen sehr treffend beschreibt: „LiebesLuder“, in dem Anke Engelke Mavie Hörbiger umbringt, weil diese den Männern im Dorf den Kopf verdrehte, allen voran ihrem Ehegespons Pierre Besson. Mit, vielleicht zu viel, Klamauk gewährt Detlev Buck einen Blick unter den Teppich, unter den in der spießigen Dorfidylle alle Probleme und Verbrechen gekehrt werden.
Schauplatz der Buckschen Komödie ist indes nicht OWL, sondern das benachbarte Sauerland. Doch dieser Dorfklüngel ist kein Alleinstellungsmerkmal von OWL, auch nicht von Nordrhein-Westfalen (NRW) – übrigens auch nicht von Österreich oder H.C. Strache. Das ist der Humus, auf dem landauf, landab Korruption und Gewalt gedeiht und Verbrechen vertuscht werden. Der ostwestfälische Morast als Pendant zum Sachsensumpf.

Der „Fall Lügde“ übersteigt mein Vorstellungsvermögen
Trotzdem hätte ich mir das, was sich uns seit geraumer Zeit an Gewaltverbrechen gegen Kinder im ostwestfälischen Lügde offenbart, in meinen schlimmsten Alpträumen nicht ausmalen können. Trotz allem übersteigt es mein Vorstellungsvermögen.
Die Zahl der identifizierten Opfer ist unterdessen auf 41 gestiegen, in 11 weiteren Fällen wird ermittelt, anfangs wurden 13.000 Kinderporno-Dateien übergeben, später fand sich weiteres Material an, anderes verschwand aus der Asservatenkammer der Polizei, Hinweise in der Vergangenheit wurden missachtet, immer mehr Material wurde gefunden – leider nicht von der Polizei, drei Männer stehen als Tatverdächtige im Fokus, zwei Männer aus OWL, einer aus dem niedersächsischen Stade. Mittlerweile reichen die Spuren dieser Männer bis nach Thüringen – und die des Verbrechens 40 Jahre zurück. Angefangen hat das also, als ich noch in der Gegend lebte. Es hätte auch mich treffen können, meine Schulfreundinnen.
Das ganze Ausmaß dieses Verbrechens wird vermutlich nie ans Tageslicht kommen – geschweige denn aufgeklärt werden.
Was mich neben der unfassbaren Tat an sich zutiefst erschüttert, ist die Tatsache, dass sie größtenteils einfach so hingenommen wird. Es gibt keinen empörten Aufschrei, keine Demos vor dem Innenministerium in Düsseldorf, keine Mahnwachen vor der Polizeiwache, aus der Beweismaterial verschwand, nicht vor dem Jugendamt im niedersächsischen Hameln, das dem Täter mindestens ein Opfer zuführte und wo Hinweise auf Sexualverbrechen an dem Kind, oder gar mehreren Kindern, ignoriert wurden.
Die Opfer haben keine Lobby. Das macht mich fassungslos, ich bin wütend und fühle mich zugleich völlig ohnmächtig. Zumal Lügde vermutlich kein Einzelfall sein dürfte.

Eine Übersicht der Ereignisse:

 

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