Wie der Erfurter Blumenkohl nach Israel kam
Text und Fotos: Birgit Gärtner
Im „Gedenkort Topf & Söhne“ ist bis Mitte Januar 2025 die Sonderausstellung „Miriams Tagebuch. Die Geschichte der Erfurter Familie Feiner“ zu sehen*. Darin wird die Geschichte der jüdischen Familie Feiner Anfang des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet, insbesondere das Leben der 1921 geborenen Tochter Marion, die sich als Jugendliche dem Zionismus zuwandte, 1938 mit knapp 18 Jahren nach Palästina auswanderte und dort den Namen „Miriam“ annahm.
Miriam Feiner heiratete den aus der Tschechoslowakei eingewanderten Juden Abraham Ziv und ließ sich mit ihm im Kibbuz Degania nieder. Der 1909 gegründete Kibbuz gilt als „Mutter“ aller Kibbuzim, er ist das erste geplante Projekt, entworfen und gebaut von dem deutsch-jüdischen Architekten Fritz Kornberg. Zu den Gründern Deganias zählten David Ben Gurion, der erste Ministerpräsident, und Levi Eshkol, dritter Premierminister Israels; der ehemalige Verteidigungsminister Mosche Dajan wurde als zweites Kind überhaupt in Degania geboren.
Während des Krieges 1948 wurden Frauen und Kinder evakuiert, die Männer verteidigten ihn gegen einen Angriff syrischer Truppen. Das war eine der ersten Schlachten dieses Krieges überhaupt, allerdings eine entscheidende, denn die Kämpfer des Kibbuz Degania verhinderten, dass syrische Truppen ins Jordantal einfallen konnten.
Später konnten Frauen und Kinder zurückkehren und es wurde neben Viehzucht Ackerbau betrieben: Außer Obst und Gemüse wurden Avocado, Bananen, Datteln und Mandeln auf Plantagen angebaut. 30 Jahre lang managte Miriam Ziv den Gemüseanbau des Kibbuz.
Original Zeichentisch Topf & Söhne |
In der Ausstellung wird ein Erfurt-Besuch im Jahr 1997 erwähnt, Miriam Ziv war Teil einer Gruppe von Jüdinnen und Juden, die aus Erfurt vor den Nazis ins Ausland geflohen waren. Diese Gruppe wurde offiziell von der Stadt Erfurt empfangen und auf dem Programm stand ein Besuch der Gärtnerei von Cornel Chrestensen. Mit diesem kam die israelische Gärtnerin über den berühmten Erfurter Blumen- und Blumenkohlanbau ins Gespräch und er versorgte sie mit Blumensamen aus dem eigenen Geschäft, die mit ihr dann nach Israel reisten und vermutlich noch heute in den Gärten des Kibbuz Degania wachsen. In einem der Exponate, ein Zeitungsartikel über diesen Besuch, ist zu lesen, dass Miriam Ziv sagte, sie sei froh, dass es Erfurter Blumenkohl auch in Israel zu kaufen gebe. Das machte die Autorin dieser Zeilen neugierig: Wie um alles in der Welt kam der Erfurter Blumenkohl nach Israel?
Die Suche nach der Antwort auf diese Frage führte mich in die Erfurter Touristenzentrale, in ein kleines Lädchen an der berühmten Krämerbrücke, in dem regionale Erfurter und Thüringer Erzeugnisse verkauft werden, auf den Wochenmarkt sowie in die Gedenkstätte „Alte Synagoge“, doch nirgendwo fand ich eine Erklärung. Mir schwante: Ich war ich etwas ganz Großem auf der Spur und die Suche nach der Antwort auf die an sich simple Frage wurde zu einer wahrlich delikaten Angelegenheit.
Die Recherchen, vor Ort in Erfurt und später zuhause im Internet, lagen wie ein 1000-Teile-Puzzle vor mir, bei dem die Teile indes nicht so recht zusammenzupassen schienen. Jedoch in einem Telefonat mit Ulrich Haage, Nachfahre des Gründers der ältesten Gärtnerei Deutschlands und Inhaber der wohl ältesten gewerblichen Kakteenzucht der Welt, setzte der Erfurter das Puzzle in knapp 10 Minuten mühelos zusammen.
Erfurt – mehr als ein hübsches Städtchen in Mitteldeutschland
Aus diesen vielen Einzelteilen ergab sich schließlich ein vielschichtiges Bild, ein Hologramm, das je nachdem, wie es gehalten wird, eine neue Perspektive zum Vorschein bringt. Diese unterschiedlichen Perspektiven erzählen eine interessante Geschichte: Die große Reise des kleinen Kohlkopfs steht für ein bedeutendes Stück Kulturgeschichte, eng verwoben mit der so pracht- wie leidvollen Erfurter Stadtgeschichte im Allgemeinen und der ebenfalls pracht- wie leidvollen Geschichte der jüdischen Gemeinde Erfurts im Besonderen, und ist der beste Beweis dafür, dass die Welt am Ende doch nur ein Dorf ist, alles mit allem zusammenhängt, wir alle voneinander abhängig sind und wir deshalb gut beraten wären, das Leben auf diesem wunderschönen Planeten kooperativ miteinander zu gestalten statt in Konkurrenz gegen- oder gar in Feindschaft zueinander. Das wäre für uns Menschen - und unsere Umwelt – bekömmlicher.
Bei oberflächlicher Betrachtung zeigt das fertige Puzzle eine mittlere Großstadt im mittleren Deutschland, mit gut erhaltener und prächtig sanierter Altstadt, in der die Fußgänger Vorrang vor allen anderen Verkehrsteilnehmern haben, mit einem beachtlichen gastronomischen Angebot von Thüringer Klößen über Lavendel-Macchiato bis hin zum kurdischen Spezialitäten-Grill, mit einer permanenten Gartenschau, dem Egapark, und auch sonst allerhand Sehenswürdigkeiten wie dem Dom, der Alten Synagoge und der Mikwe, dem mittelalterlichen jüdischen Ritualbad.
Krämerbrücke |
Der Reichtum Erfurts war stark verknüpft mit dem Handel mit Färberwaid, einer Pflanze, aus der der Farbstoff Indigo gewonnen wurde. Als der thüringische Färberwaid durch asiatische Produkte vom Markt verdrängt wurde, war Erfindergeist gefragt. Diesen brachte Christian Reichart mit, ein 1685 geborener Jurist, der sich selbst zum Gärtner ausbildete, den Grundstein für den gewerblichen Gartenbau legte und Erfurt den Beinamen „Blumenstadt“ einbrachte. Diesem Gartenbaupionier kam der ursprünglich aus der Levante nach Italien eingewanderte Blumenkohl, der zu seinen Lebzeiten bereits den Weg von Italien auch in die deutschen Gärten gefunden hatte und sich so wunderbar in den Erfurter Böden anbauen ließ, gerade recht.
Erfurt, der Gemüsegarten des Heiligen römischen Reiches
Erfurt wurde 742 das erste Mal erwähnt, und zwar in einem Brief des Missionars Bonifatius an den 741 ernannten Papst Zacharias II. als einen Ort, „der Erphesfurt‘ heißt, der schon vor Zeiten eine befestigte Siedlung (urbs) heidnischer Bauern gewesen ist…“.
Der als Wynfreth im Süden Englands geborene Bonifatius war einer der bekanntesten christlichen Missionare. Im Alter von 30 Jahren wurde er zum Priester geweiht; am 15. Mai 719 bekam er Papst Gregor II. den Namen Bonifatius („der gutes Schicksal Bringende“) und den Auftrag, den „ungläubigen Völkern das Geheimnis des Glaubens bekannt zu machen“; 722 wurde er zum Missionsbischoff ohne festen Wohnsitz geweiht. Danach zog Bonifatius durch Gebiete im heutigen Hessen, Thüringen und Bayern. Doch Bonifatius war nicht allein unterwegs, er begab sich auf Expedition mit Kriegern, Handwerkern und größerem Gefolge, um Niederlassungen und Klöster zu gründen. Insbesondere Thüringen galt Papst Gregor II. als wichtiges Machtzentrum, doch erst 742 konnte Bonifatius die Gründung des Bistums Erfurt nach Rom vermelden, da war Gregor II. seit 11 Jahren tot. Ebenfalls 742 gründete Bonifatius das Kloster in Altenbergen, in dem 400 Jahre später Graf Ludwig von Schaumburg getauft wurde, der als Erbauer der Wartburg gilt. 752 wurde der Vorgänger des heutigen Erfurter Doms von Bonifatius errichtet, in dem am 4. April 1507 Martin Luther zum Priester geweiht wurde. Sein Noviziat absolvierte dieser im Erfurter Augustiner-Kloster und seine erste Messe als Priester las er in der Erfurter Klosterkirche.
Via Regia |
Die Mönche in den Klöstern des Bistums Erfurt mussten sich versorgen und bauten Gemüse an. Das gelang in der Gegend um Erfurt wohl so gut, dass Bonifatius diese als „Gemüsegarten des Heiligen Römischen Reiches“ bezeichnete. Doch zum Handelszentrum entwickelte sich Erfurt nicht wegen des Gemüseanbaus, sondern wegen des Handels mit Färberwaid. Nur wenige Städte hatten im Mittelalter das Privileg, den Handel von Färberwaid zu betreiben. Das Thüringer Becken bot optimale Bedingungen für den Waidanbau, so dass sich Erfurt zum führenden Färberwaid-Handelszentrum entwickelte, was der Stadt großen Reichtum einbrachte. So ist es kein Wunder, dass die Via Regia, die historische Handelsstraße von Satiago de Campostela bis nach Kiew, auch durch Erfurt führte.
Erfurt und die Judenverfolgung
Das wirtschaftlich bedeutende Erfurt zog auch jüdische Händler an, die sich im Zentrum der Handelsmetropole ansiedelten und im 11. Jahrhundert eine Synagoge errichteten, die heute die älteste erhaltene Synagoge Europas ist. Allerdings wird sie nicht mehr als Gebetshaus genutzt, sondern fungiert als Museum.
Trotz eines Pogroms 1221, vermutlich durch friesische Pilger, bei dem 21 bis 26 Juden ermordet wurden oder sich das Leben nahmen, bildete sich eine jüdische Gemeinschaft heraus, die einen eigenen Friedhof hatte. 1349 wurden bei einem weiteren Pogrom fast alle Juden Erfurts getötet oder vertrieben. Die Synagoge wurde anschließend zweckentfremdet. Doch schon fünf Jahre später ließen sich jüdische Familien wieder in Erfurt nieder und eine neue jüdische Gemeinde entstand. Diese errichtete Ende des 13. Jahrhunderts die Mikwe, ein rituelles Bad, das nur von Juden – und vor allem Jüdinnen – genutzt wurde. 2007 wurde sie bei Grabungsarbeiten entdeckt und ist heute zusammen mit der alten Synagoge und dem Steinernen Haus UNESCO-Weltkulturerbe.
Luthers Schriften im Augustiner-Kloster |
1453 wurde den Erfurter Juden vom Erzbischof von Mainz, dem das Bistum Erfurt unterstand, der Schutz entzogen. Daraufhin wurden diese vertrieben oder wanderten ab. Schon als Martin Luther 1483 geboren wurde, gab es in Erfurt keine Juden mehr. Als er 1505 im dortigen Augustinerkloster aufgenommen wurde, war die Stadt ein halbes Jahrhundert „judenfrei“. Als er 1523 von einer „gewaltfreien Mission“ des Judentums sprach, gab es sowohl in Erfurt als auch in Wittenberg, wo Luther unterdessen lebte, niemanden zu missionieren. Kurfürstin Margaretha, Gemahlin des sächsischen Kurfürsten Friedrich des Sanftmütigen, hatte 1440 die Austreibung aller Juden aus Wittenberg durchgesetzt. Der noch heute gefeierte Reformator speiste den zu seiner Zeit vorherrschenden Antijudaismus in die religiösen Schriften und damit den Protestantismus ein. Dieser überlieferte religiöse Antijudaismus gilt als einer der Gründe, weshalb so viele Protestanten zu Hitler-Anhängern wurden.
Erst ab 1806 durften sich wieder Juden in Erfurt ansiedeln. Anfang der 1820er Jahre zog beispielsweise die Familie Benary vom hessischen Witzenhausen nach Erfurt um. Schnell entwickelte sich ein aktives Gemeindeleben, so dass 1840 erneut eine Synagoge errichtet wurde.
Nach 1933 wurden viele Juden in Erfurt aus ihren Berufen verdrängt, ihr Besitz „arisiert“. Viele Juden gingen in die Emigration. Die Synagoge wurde in der Reichspogromnacht 1938 zerstört. Von 1940 bis 1943 wurden die Thüringer Juden in verschiedene Konzentrationslager deportiert, wo sie Opfer des Holocaust wurden; allein 500 Personen im Mai 1942.
Auch die Eltern von Miriam Ziv, Joseph und Adele Feiner, wurden am 28. Oktober 1938 in der sogenannten „Polenaktion“ aus Deutschland ausgewiesen. Sie flüchteten zu Verwandten nach Lwów (heute Lwiw) in der Ukraine und wurden ermordet, nachdem die Deutschen die Region besetzt hatten.
Schon 1946 kehrte jüdisches Leben nach Erfurt zurück, heute leben ca. 620 Jüdinnen und Juden dort; darunter viele eingewanderte Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostblockstaaten.
Blick in die MIKWE |
Die Erfurter jüdische Gemeinde sorgte 1998 international für Furore, als bei dem Bau einer Wohnanlage ein außergewöhnlicher Schatz gehoben wurde: 3.141 historische französische Silbermünzen, 14 Silberbarren, 700 Schmuckstücke. Gewandbesatzteile und Silbergefäße. Darunter ein Hochzeitsring mit hebräischer Inschrift, mit dem eindeutig die jüdische Herkunft der Exponate bewiesen ist. Da sich die Wohnanlage nur wenige Meter neben der Alten Synagoge befand, wurde angenommen, dass die Münzen und Goldstücke einst dem jüdischen Bankier Kalman von Wiehe gehörten. Die Familie von Wiehe überlebte das Pogrom 1221 nicht. Der Schatz ist heute in der Alten Synagoge ausgestellt.
Die mittelalterliche Erfurter jüdische Gemeinde scheint von herausragender Bedeutung gewesen zu sein. 15 Handschriften aus dem 1. bis 14. Jahrhundert sind erhalten, so viele, wie von keiner anderen Gemeinde. Außerdem vier Thorarollen, vier hebräische Bibeln sowie ein Machsor. Die Handschriften wurden vermutlich während des Pogroms 1221 entwendet und gelangten in die Hände des Erfurter Rates. Z. T. wurden sie verkauft, z. T. wurden sie in der Bibliothek des Evangelischen Ministeriums im Augustinerkloster aufbewahrt und von dort 1880 an die Königliche Bibliothek Berlin, heute Staatsbibliothek, verkauft.
Erfurter Erfindergeist
Ernst, der zweitjüngste Sohn der Familie Benary, machte Abitur am Erfurter Gymnasium und absolvierte anschließend eine Lehre in der damals größten Gärtnerei Erfurts: Der Gärtnerei Haage. Nach der Ausbildung ging er auf Wanderschaft, kehrte zur Gärtnerei Haage zurück und machte sich schließlich selbständig.
Im 18. Jahrhundert wurde der Gemüseanbau revolutioniert: Dem Erfurter Christian Reichert gelang die Samenzucht; so begründete er den gewerbsmäßigen Gemüsehandel – zunächst regional, dann überregional, national und schließlich international. Das bedeutete, dass jeder kleine Bauer nun nicht mehr umständlich eigene Samen ziehen musste, sondern seine Felder mit Saatgut aus Erfurt bestellen konnte. Das wiederum machte die Intensivlandwirtschaft, die Massen-Blumenkohl-Haltung sozusagen, möglich.
Der Gartenbau-Versandhandel, konkret der Handel mit Blumen- und Gemüsesamen, ist eine Erfurter Erfindung, deutsche Firmen sind darin auch heute noch ganz vorn dabei, die erste Handelsgärtnerei eröffnete in Erfurt ihr Geschäft, die erste Gärtnerei, die eine Anzeige in einer Zeitung schaltete, war eine Erfurter Gärtnerei, das erste bunt gestaltete Anzeigenblättchen, der Vorläufer des Versandhauskatalogs, wurde in Erfurt hergestellt.
Die Entwicklung des Samenhandels ist eng verbunden mit der 1685 gegründeten Gärtnerei Haage, die eine eigene Blumenkohl-Sorte züchtete, den „Haag´schen Erfurter Zwerg“; aber auch mit den Gärtnereien Chrestensen und Benary, die zwar die NS-Zeit unbeschadet überstand, nicht aber den Sozialismus und deshalb unterdessen in Hannoversch Münden ansässig ist.
Gezüchtet wurde der Blumenkohl Anfang des 20. Jahrhunderts am Erfurter Nonnenrain, direkt hinter dem Wohnhaus der Familie Feiner. Die Blumenkohlfelder am Nonnenrain wurden von allen großen Gärtnereien Erfurts bewirtschaftet, erklärte Ulrich Haage: „Allerdings nicht zum Verkauf der weißen Köpfe, sondern zur Samenzucht“.
Nach der Gründung des Staates Israel wurde dieser Teil des weltweiten Samenhandels, außerdem begeisterten sich die eingewanderten Juden nicht unbedingt für Kichererbsen und Oliven, sondern brachten regionale Essgewohnheiten und Lebensmittel mit. Auf diese Weise wurde nicht nur die israelische Küche zum kulinarischen Meltingpot, sondern so gelangte auch der berühmte Erfurter Blumenkohl nach Israel. Dieser wird nicht kopfweise importiert, sondern in Israel aus Samen gezüchtet, was letztlich auf die revolutionäre Entwicklung von Christian Reichert in den berühmten Erfurter Blumenkohlfeldern zurückgeht. Mit der Einbindung Israels in den weltweiten Samenhandel schloss sich der Kreis des im 6. Jahrhunderts vermutlich aus der Levante nach Italien eingewanderten Blumenkohls.
*Sonderausstellung „Miriams Tagebuch. Die Geschichte der Erfurter Familie Feiner“, bis zum 12. Januar 2025, Erinnerungsort Topf & Söhne, Sorbenweg 7, 99099 Erfurt, der Eintritt ist kostenlos, Gebäude und Ausstellungen sind barrierefrei.