Das Phänomen „Bäder-Antisemitismus“

 

 

Ein „Lehrstück für den Extremismus, der aus der gesellschaftlichen Mitte kommt“

Text und Fotos: Birgit Gärtner 

Antisemitismus als rechtsextremes Phänomen ist eine Erfindung der Nachkriegsgeneration. Vermutlich, weil sie damit besser leben konnte als mit der Schuld der eigenen Eltern und Großeltern. Antisemitismus ist weder links, noch rechts, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Die Zuschreibung „rechtsextrem“ wurde von den 68ern in unser Bildungssystem eingespeist, wir alle sind damit aufgewachsen. Nur: Es stimmt einfach nicht. Antisemitismus ist weder mit dem österreichischen Postkarten-Abmaler über die Deutschen gekommen; noch wurde Adolf Hitler „trotz“ seines offen propagierten Judenhasses gewählt, sondern genau deswegen! Der Bäder-Antisemitismus, mit dem vor 100 Jahren sogar Werbung für „judenfreie“ Erholung gemacht werden konnte, ist das beste Beispiel dafür. Die einzige Partei, die diesen konsequent verurteilte, war die Sozialdemokratie.

Ende des 18. Jahrhunderts rieten Leibärzte den Adeligen zum Kururlaub an der See und lösten somit einen richtiggehenden Hype aus: Ab 1793 wurde über einen Zeitraum von insgesamt 50 Jahren der Kurort Heiligendamm (Mecklenburg-Vorpommern) erbaut, viele weitere an  Ost- und Nordsee folgten. Zunächst galten diese als Adels-Treffpunkt, dann kurte auch das Groß- und schließlich das Kleinbürgertum. So wurden die Bäder zum Spiegelbild der Gesellschaft – und ihrer Verwerfungen. Der „Bäder-Antisemitismus“ nahm vielerorts die nach der Machtübertragung an Adolf Hitler erfolgte „Rassentrennung“ vorweg: Nicht wenige Kurorte, zunächst an den deutschen Küsten, über das Binnenland, bis in die österreichischen Alpen, machten explizit mit dem Ausschluss jüdischer Gäste Werbung, in Zeitungsinseraten und auf Postkarten mit idyllischen Motiven und der Aufschrift „XY judenfrei“.

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war Deutschland, oder exakt das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“, ein komplexes Gebilde mit vielen kleinen von Königen, Fürsten oder Herzögen regierten Territorien. Deshalb gab es viele Adelige – und eine überschaubare Anzahl von Juden: Um 1700 im gesamten Reich etwa 25.000, ein halbes Jahrhundert später etwa 60-70.000. Deren Leben wurde durch eine Vielzahl von Verordnungen geprägt, die dazu dienten, die jüdischen Gemeinden zahlenmäßig zu begrenzen und trotzdem an deren Besitz partizipieren zu können. So wurde u.a. die Höchstzahl der Kinder pro Familie geregelt, nur ein Sohn durfte in der Familie bleiben, die anderen mussten auswandern, sie durften keine Synagogen halten, wenngleich 1714 in Berlin eine in Anwesenheit der Königin eröffnet wurde. Zum Teil wurden sie als „Schutz-Juden“ bezeichnet und hatten einen Status, der an das Dhimmi-System im Islam erinnert: Sie waren geduldet, mussten spezielle Steuern zahlen, durften nicht missionieren und wurden öffentlich gedemütigt und diskriminiert.

Norddeutschland ist eine traditionell protestantisch geprägte Region. Der dort noch heute mit einem eigenen Feiertag bedachte Reformator Martin Luther sagte nicht nur dem Ablasshandel den Kampf an und wollte die Christen zu einem gottgefälligen – und somit puritanischem -  Leben bekehren, sondern er war ein veritabler Judenhasser. Zwar gab es, schon als Martin Luther 1483 in Eisleben geboren wurde, in seiner späteren Wirkungsstätte Erfurt keine Juden mehr. Als er 1505 im dortigen Augustinerkloster aufgenommen wurde, war die Stadt ein halbes Jahrhundert „judenfrei“. Als er 1523 von einer „gewaltfreien Mission“ des Judentums sprach, gab es sowohl in Erfurt als auch in Wittenberg, wo Luther unterdessen lebte, niemanden zu missionieren. Kurfürstin Margaretha, Gemahlin des sächsischen Kurfürsten Friedrich des Sanftmütigen, hatte 1440 die Austreibung aller Juden aus Wittenberg durchgesetzt. Martin Luther frönte trotzdem dem zu seiner Zeit vorherrschenden Antijudaismus und speiste diesen in die religiösen Schriften und damit den Protestantismus ein. Dieser überlieferte religiöse Antijudaismus gilt als einer der Gründe, weshalb so viele Protestanten zu Hitler-Anhängern wurden.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Auch der Katholizismus hat Antisemitismus in der DNA; Anti-Judaismus existierte schon in der römischen Antike, mit dem Christentum – und dem Mythos „Juden = Jesusmörder“ – verbreitete er sich über den gesamten abendländischen Raum und prägte die europäischen Gesellschaften. Dem Mythos „Jesus- und Kindermörder“ folgte die „jüdische Weltverschwörung“, nach der Gründung Israels erhielt der Judenhass den Namen „Antizionismus“.

Wie auch im Christentum ist Judenhass Bestandteil der Gründungslegende des Islam. Arabisch-muslimischer und europäischer Antisemitismus ergänzen und befruchten einander wunderbar. Nicht nur historisch in der Fusion des Hitlerschen Judenhasses mit dem des Mohammed Amin al-Husseini, bekannt als „Mufti von Jerusalem“, sondern aktuell auf unseren Straßen, in den Unis, im Kunst-, Kultur- und Medienbetrieb.

Die Kurverwaltungen versuchten z. T. gegenzusteuern – und sei es, damit ihnen die Einnahmen der jüdischen Gäste nicht verlustig gingen. Unterstützt wurden sie dabei von der Sozialdemokratie. Dennoch konnte sich das Phänomen „Bäder-Antisemitismus“ später in Kurorte über das Binnenland bis in die österreichischen Alpen verbreiten; und war nicht nur in Deutschland, sondern auch im europäischen Ausland und in den USA anzutreffen. Nur nirgendwo wurde der Judenhass so brutal und eliminatorisch ausgelebt wie in Deutschland.

Der Herzog ging planschen

Abgesehen von Glanz und Gloria bei Hofe, etwa im Herzogtum Mecklenburg-Schwerin, war das Leben der Menschen in den Küstenregionen hart und entbehrungsvoll. Viele Familien lebten zwar von Meer, aber schwimmen konnten sie nicht. So kam es, dass häufig ertrank, wer vom Boot oder Schiff fiel. Das, und Plagen wie die Pest, Piraten oder die Normannen, die über das Meer kamen, nährten Furcht vor dem rauen Gewässer. Allerdings fiel Medizinern, nicht nur in Deutschland, auf, dass die Küstenbewohner wohl gesünder waren als ihre Landsleute im Binnenland. Der „NDR“-Reportage „Die Geschichte der deutschen Seebäder an der Ostsee“ zufolge verfasste der britische Mediziner Richard Russel 1753 seine Doktorarbeit über „die gesundheitsfördernde Wirkung des Meerwassers“. Seine Erkenntnisse machten Furore und kamen auch deutschen Ärzten zu Ohren, u.a. dem Hofrat Samuel Vogel, Leibarzt des Großherzogs Friedrich Franz von Mecklenburg-Schwerin.

Dieser residierte im Sommer mit großem Hofstaat und vielen Gästen in Doberan, im dortigen Münster ruhten auch die Gebeine seiner Vorfahren. Nur vom Meer hielten die Herrschaften sich fern. Schließlich gelang es Samuel Vogel, die illustre Gesellschaft zu überreden, sich ins Wasser zu begeben. Allerdings nicht in Doberan, sondern im nahe gelegenen Heiligendamm. Offenbar fand der Herzog daran Gefallen, wenn auch immer noch nicht von schwimmen die Rede sein konnte, sondern eher von planschen. Dennoch ließ Großherzog Friedrich Franz von Mecklenburg-Schwerin ab 1793 ein Kurbad in Heiligendamm erbauen: die „weiße Stadt am Meer“. Innerhalb von 50 Jahren entstand ein Ort mit hochherrschaftlichen Gebäuden, einem „Tempel am Meer“, später sogar mit einer Burg, dennoch, so sagte es in besagter „NDR“-Reportage Hans Schlag, Geschäftsführer der „ECH Entwicklungs Compagnie Heiligendamm“, im „Dialog zwischen gebauter Architektur und vorhandener Natur“.  

Samuel Vogel schickte den Herzog und seine Gefolgschaft indes nicht einfach so ins Wasser, sondern erlegte ihnen strikte Regeln auf. So sollten sie laut der „NDR“-Reportage „in einem Zustand beträchtlicher Ermattung“ nicht baden, „erquickenden Schlaf in der Nacht“ gehabt haben, „sich zunächst abkühlen und dann in zwei, drei Absätzen ins Wasser gehen“. In späteren Reiseführern wurde davor gewarnt, das Bad vor „dem fünften Tag nach Anreise“ zu nehmen und  „längeres Liegen im Sande“ zu vermeiden.

Geschlechter-Apartheid am Badestrand

Grundsätzlich herrschten strenge Konventionen und ein strikter Dresscode im Badeort und am Strand. So wurde nach Geschlechtern getrennt in verschiedenen Strandabschnitten gebadet. Badewagen, von Pferden gezogen, brachten die Gäste ins Wasser, und nachdem sie sich umgekleidet hatten, konnten sie ins kühle Nass gleiten. War ihnen der Badespaß vergangen, wurden sie auf gleichem Wege wieder abgeholt, konnten sich umkleiden und trockenen Fußes an Land gelangen. Der „Damenpad“ auf Spiekeroog erinnert noch heute an diese Zeit.

Nachdem in Heiligenhafen der Anfang gemacht wurde, entstanden auch an anderen Orten Seebäder, sowohl an der Ost- als auch an der Nordsee. Teilweise einfach dadurch, dass ein gewiefter Geschäftsmann Badewagen an den Strand stellte. Bereits 1779 wurde das Kurbad auf der Insel Norderney eröffnet, 1802 in Travemünde bei Lübeck, 1804 auf der Insel Wangerooge, 1830 auf der Insel Borkum, 1805 in Warnemünde bei Rostock, 1816 in Cuxhaven, heute mit 4 Mio. Übernachtungen einer der am meisten frequentierten Kurort Deutschlands, 1819 folgten Wyk auf Föhr, 1826 Helgoland, 1830 die Inseln Borkum und Langeoog, 1846 die Insel Spiekeroog dem Beispiel Heiligendamms und 1846 wurde das Kurbad in Zinnowitz eröffnet.

Diese Bäder waren zunächst dem Adel vorbehalten, später folgte das Großbürgertum. Die Zahl der Gäste blieb dem Historiker Frank Bajohr zufolge „überschaubar“. Die wenigen Gäste blieben allerdings 6-8 Wochen, manche auch länger. Laut Frank Bajohr wurde „von den Damen erwartet, dass sie sich während des Tages mehrfach“ umkleideten – immer der Tageszeit entsprechend und natürlich jeden Tag anders. Ein kolossaler Aufwand, gemessen an den damaligen beschwerlichen Reisemöglichkeiten. An der Kleidung war der Sozialstatus der Trägerinnen und Träger abzulesen. Wer also repräsentieren wollte, musste sich den Aufwand gefallen lassen.

Die Kurbäder mutierten schnell zum Heiratsmarkt. Wie auch am Hamburger Jungfernstieg wurden heiratsfähige Damen herausgeputzt und durften – oder mussten – über die Promenaden flanieren, in der Hoffnung, sich so einen Ehemann zu angeln, der ihnen den vom Elternhaus gewohnten Lebensstil bieten konnte. So konnte nicht selten der Kur-Urlaub mit einer Verlobung gekrönt werden.

Die Bademode unterlag einer sehr strengen Etikette. Zunächst mussten die Damen ihre Körper komplett bedecken. So kam es, dass immer mal wieder eine wegen zu schwerer Kleidung gerettet werden musste. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Regeln gelockert, Bildern und Fotos aus der damaligen Zeit nach zu urteilen, kamen Badekleider in Mode, die an die Kittel der Hausfrauen der 1960er erinnern.

Der Jude ist an allem Schuld

Jeder Badeort wurde zu einem ganz eigenen Kosmos, in dem sich einerseits eigene Dynamiken entfalteten, sich andererseits aber gesellschaftliche Prozesse widerspiegelten. Frank Bajohr zufolge mischten sich im Laufe der Zeit immer mehr Gäste aus kleinbürgerlichen Kreisen unter die Gäste, bzw., es entstanden spezielle Badeorte, die genau diese Klientel anzogen.

 1871, mit der Gründung des Kaiserreichs, wurde die jüdische Minderheit gesetzlich gleichgestellt. Diese integrierten und etablierten sich schnell. Es folgte der „Bundeszentrale für politische Bildung“ (bpb) zufolge „eine Epoche des sozialen Aufstiegs und der weiteren Ausdifferenzierung jüdischer Lebenswelten.“ Zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung gehörten laut bpb „ab dem Kaiserreich zum vor allem städtischen Bürgertum“. Auch unter den Gastwirten und Hoteliers gab es einige Juden.

Doch, so das bpb: „Je mehr Juden sich in die ´allgemeine` Gesellschaft integrierten, desto bedrohlicher schien der ´jüdische Geist` einigen Judenhassern zu werden.“ Zu dem vor allem protestantisch geprägten Antijudaismus gesellte sich der „politisch und der rassistisch geprägte Antisemitismus.“ Dieser war „nicht nur salonfähig, sondern wurde ein Massenphänomen. Hinzu kamen ab den 1890er-Jahren rassistische und völkische Vorstellungen vom Judentum.“

Das spiegelte sich Frank Bajohr zufolge auch in den Kurorten an Nord- und Ostsee wieder. Der Historiker schreibt in seinem Buch „Unser Hotel ist judenfrei – Bäder-Antisemitismus im 19. Und 20. Jahrhundert“: „Der Bäder-Antisemitismus gründete sich nicht auf konfessionelle Abneigung und Distanz, sondern nahm auf die gesellschaftliche Funktion der Badereise Bezug, vor allem auf die soziale Repräsentation, die als ´undeutsch` oder als ´typisch jüdisch` denunziert wurde.“

Über Juden hieß es laut Frank Bajohr: „Es treibe sie der ´Wunsch, sich geltend zu machen, etwas vorzustellen`, insbesondere ihre ´erfolgreiche Geschicklichkeit im Geldverdienen` und  ihren ´Stolz auf die sogenannte Intelligenz` öffentlich zu demonstrieren.“

Mit anderen Worten: Das für die Kurorte typische Verhalten wurde zu „jüdischem“ und damit „undeutschen“ Verhalten umgedeutet. Hintergrund dessen ist laut Frank Bajohr, dass die Landadeligen, die das Geschehen über sehr lange Zeit bestimmt hatten und quasi unter sich waren, nun damit konfrontiert wurden, dass nicht nur Titel, sondern auch „Benehmen, Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit, Bildung und Witz“ gefragt waren. Die Adeligen mussten „Achtung im sozialen Austausch erst erwerben und konnten nicht auf traditionelle Vorrechte pochen“. Die durch die Industrialisierung begründeten gesellschaftlichen Umbrüche wurden den Juden angelastet und diese in Schriften und Zeichnungen verächtlich gemacht.

Antisemitismus auch in der „Weimarer Republik“

Mit der Ausrufung der „Weimarer Republik“, der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland, konkret mit Artikel 136 der „Weimarer Reichsverfassung“, erlangten die Juden laut bpb die vollständige Gleichstellung: „Alle Staatsämter sollten ihnen fortan uneingeschränkt offenstehen und der Besitz aller bürgerlichen Rechte sollte von der Religion unabhängig sein“.

Nach dem Ersten Weltkrieg stieg die Zahl der Juden zwar auf 564.000 Personen im Jahr 1925 an, das war jedoch nur ein Anteil von 1% an der Gesamtbevölkerung.

Laut bpb schien „ab Mitte der 1920er-Jahre sich die Hoffnung auf Anerkennung auch real umzusetzen. Die in der Weimarer Republik lebenden Juden waren – wie die moderne Gesellschaft insgesamt – zunehmend weniger religiös organisiert. So wird geschätzt, dass nur noch ein Fünftel der deutschen Juden die religiösen Speisegebote einhielt.“

Die „Weimarer Republik“ gilt als die „Blütezeit jüdischen Lebens“, Juden waren im Handel- und Bankgewerbe erfolgreich, in Kunst und Kultur, der Architektur, Bildung, Justiz, im Journalismus und in der Schriftstellerei.

Insgesamt hatte sich die Gesellschaft stark gewandelt. Vor dem ersten Weltkrieg hatten etwa 11% der Werktätigen Anspruch auf Urlaub, 2918 waren es bereits 95%, 1929 98%. Das machte sich auch in den Kurorten bemerkbar. Es gab Bäder, in denen die verschiedenen sozialen Stände sich mischten, es gab Bäder für den gehobenen Anspruch – und Geldbeutel – und es gab Bäder, die auf Massen-Tourismus setzten. Zumindest für damalige Verhältnisse. Aber eines blieb immer virulent: der Antisemitismus. Und nach der Weltwirtschaftskrise brach er sich mit Macht Bahn. Zwar blieben einzelne Kurbäder, und zwar jene wie Norderney und Sylt, die auf ein zahlungskräftiges internationales Publikum setzten, davon (noch) unberührt, aber beispielsweise Borkum oder Langeoog verkündeten stolz „judenfrei“ zu sein.

Norderney hatte schon lange den Ruf der „Judeninsel“, dort wurde 1840 die erste koschere Küche eröffnet, 1878 die Synagoge eingeweiht, 1910 nahm der Unabhängige Orden B`nai B`rith ein Kindererholungsheim in Betrieb und die Insel zeichnete sich laut Frank Bajohr „durch ein flächendeckendes Angebot ritueller Speisehäuser einschließlich einer koscheren Metzgerei“ aus.

Offener Antisemitismus als Marketingstrategie

Egal, wie die Juden sich benahmen, welche Ansprüche sie stellten, wie sie sich kleideten, in vielen Badeorten waren sie nicht erwünscht; beispielsweise in Zinnowitz. Diese Erfahrung machte der Dresdener Romanist Victor Klemperer. Frank Bajohr zitiert in seinem Buch einen Tagebuchvermerk Klemperers, der auf einem Strandspaziergang 1927 in das Ostseebad geraten war:

„´Zinnowitz` wäre ein Bad wie die anderen auch, aber es ist daß (sic) betont judenreine Bad, es ist in Judenreinheit Bansin noch überlegen. Am (sehr langen) Landungssteg führt es die Hakenkreuzfahne, u. in den Läden kauft man auf Postkarten das Zinnowitzlied, eine blödsinniges Gereime nach der Melodie ´Hip, hip, hurra!`, mit dem Refrain, fern bleibe der Sohn vom Stamme Manasse u. jeder Itz – man wolle keine fremde Rasse in Zinnowitz (auf das ein andermal Gott behüt´s gereimt wird). Es ist ekelhaft, dass solche Verhetzung erlaubt ist.“

Auch die Nordseeinsel Langeoog scheint historischen Quellen zufolge schon vor dem ersten Weltkrieg „judenfrei“ gewesen zu sein. Das geht aus einem Tagebuch eines damals 13jährigen Urlaubers hervor, das Autor Jörg Echternkamp in seinem Buch „Langeoog – Biographie einer deutschen Insel“ zitiert. Demnach unternahm der Junge „mit seinen Eltern eine Tagestour zur Nachbarinsel Norderney und notierte, wie erschreckt sie darüber waren, dort viele Juden anzutreffen: ´Alles Juden, die sich hier besonders breit machen. Die gelben Gesichter, schwarze Haare, scharf geschnittene Nasen sind einfach vorherrschend`. Langeoog muss da also schon das gewesen sein, womit später alle Inseln warben: ´judenfrei`.“

Im Sommer 1936 war „das Singen am Strand und in den Dünen ein wichtiger Punkt im Programm des von der Hitlerjugend organisierten Zeltlagers ´Nordsee`. Ein Massensingen unter freiem Himmel, das sich in kurzer Zeit ´zu einer reichsweit bekannten Attraktion der Insel` entwickelt habe, ´die nach dem Krieg wieder aufgegriffen wurde und bis heute eine feste Größe im Unterhaltungsprogramm der Insel darstellt`. Damals saßen die Jugendlichen am Rande der Dünen, täglich eine Stunde, und sangen Lieder aus vom Reichsjugendführer herausgegebenen Liederbüchern. ´Uns geht die Sonne nicht unter`, ´Blut und Ehre`, Zeilen wurden geschmettert wie ´Erst wenn die Juden bluten, erst dann sind wir befreit`.“

Frank Bajohr bezeichnet den Bäder-Antisemitismus als „Lehrstück für den Extremismus, der aus der gesellschaftlichen Mitte kommt.“ Es sei „zum einen natürlich Ausdruck des allgemeinen, in Deutschland verbreiteten gesellschaftlichen Antisemitismus“ gewesen, erklärte der Historiker im „Deutschlandfunk“. Vor dem Ersten Weltkrieg seien Urlaubsreisen noch als gesellschaftliches Statussymbol aufgeladen gewesen, da sie sich nur wenige Familien leisten konnten. Die Juden seien damals eine gesellschaftlich erfolgreiche Minderheit gewesen: „… früh verbürgerlicht, ein hoher Anteil von Akademikern“ –, habe dies unter jenen, die sich weniger leisten konnten, im besonderen Maß Neid und Missgunst hervorgerufen. Deshalb sei „ein Ventil für ihre Statusunsicherheiten und Ängste“ gesucht worden. Auch wohlsituierte Bürger hätten sich im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierungen seit den 1890er Jahren daran beteiligt.

Nach der Machtübertragung an Hitler wurden die Juden bekanntermaßen nicht nur aus den Kurbädern verdrängt, sondern komplett aus der Gesellschaft ausgegrenzt, ghettoisiert, deportiert und millionenfach ermordet. Die Strandbäder jedoch blieben alsbald nicht nur „juden“- sondern gästefrei. Statt herausgeputzter flanierender Jungfrauen marschierten Militäreinheiten im Gleichschritt über die Promenaden.

 

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