Liebe Grüße von einer berufsmäßigen Staatsdelegitimiererin

 

  

 

Text: Birgit Gärtner

 

Offener Brief an Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV)

Sehr geehrter Herr Haldenwang,

Irgendwie scheint da ein Missverständnis vorzuliegen: Als Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) ist es Ihre Aufgabe, Grundrechte wie Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit aktiv zu schützen und nicht jene, die diese wahrnehmen, als Staatsfeind und/oder Querulantin zu diskreditieren. Protest zu delegitimieren, um es in Ihren Worten zu sagen.

Eigentlich sollten Sie wissen, dass "Delegitimierung des Staates" weder neu noch originell ist, früher hieß es nur außerparlamentarische Opposition und galt – sofern der Protest friedlich blieb – für die Demokratie als unverzichtbar. Wenngleich Widerspruch und vor allem Widerstand den Herrschenden schon immer ein Dorn im Auge war.

„Delegitimierung des Staates“ heißt so viel wie „kritisch hinterfragen“ und ist – eigentlich jedenfalls – das Kerngeschäft eines gesamten Berufsstandes: Den Medien. Das hat mich so sehr überzeugt, dass ich mich diesem „staatsdelegitimierenden“ Treiben aktiv angeschlossen habe und Journalistin geworden bin.

Die Ökologiebewegung gibt es seit den 1970ern und ich bin seit Jahrzehnten ein aktiver Teil davon. Wir, d.h. meine Generation, waren diejenigen, die ökologisches gärtnern und landwirtschaften eingeführt, Körnerbrot gebacken, auf sauren Regen aufmerksam gemacht, das Auto stehen gelassen und umweltschonende Spül- und Reinigungsmittel benutzt haben. Damals wurden wir für unser Engagement belächelt, heute wird unsere Generation als „Umweltsau“ verächtlich gemacht.

Die Friedensbewegung existiert noch länger als die Ökologiebewegung. Auch dort war ich schon als Jugendliche aktiv. Wir haben gegen die Militarisierung der Gesellschaft, die Stationierung von atomaren Sprengköpfen, gegen Waffenproduktion und –export und für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung demonstriert. Ca. 20 dieser atomaren Sprengköpfe sind bis heute im rheinland-pfälzischen Büchel stationiert, eines der Ziele, die russische Atomraketen vermutlich priorisiert anzielen würden.

Spazieren gegangen sind wir auch. Beispielsweise an Ostern von Bielefeld nach Dortmund. Oder von Hamburg nach Munster zum größten Truppen-Übungsplatz der NATO außerhalb der USA. Nannte sich Ostermarsch, Sie erinnern das sicher. Auch dieser Truppenübungsplatz ist eines der Ziele, die russische Atomraketen vermutlich priorisiert anzielen würden.

Gegen Sozialabbau wurde (und wird) auch demonstriert - ebenfalls seit Mitte der 1970er. Vielleicht sagt Ihnen der Begriff „Rotstiftpolitik“ noch was. Eine Erfindung der Sozis.

Ferner haben wir gegen Berufsverbote demonstriert und die Volkszählung boykottiert.

Wir haben auch für etwas demonstriert, beispielsweise gleiche Bildungschancen oder gleiche Bezahlung für gleichwertige Arbeit.

Und Häuser haben wir besetzt. Ok, ich jetzt nicht wirklich. Aber ich habe die Besetzung eines Krankenhauses, wie es so schön heißt, publizistisch begleitet. Mit von der Partie waren damals so subversive Elemente wie Heidi Kabel und Inge Meysel. Was Sie den beiden heute wohl sagen würden? Sich für den Erhalt eines Krankenhauses einzusetzen sei „Delegitimierung des Staates“?

Wir haben für und gegen vieles mehr demonstriert. Den Kampf um Frauenrechte zu erwähnen, wäre mir ein wichtiges Anliegen. Doch alles aufzuzählen, würde den Rahmen sprengen. Deshalb will ich es mal dabei belassen.

Ach, Nazis vielleicht noch. Schon - Überraschung - Mitte der 1970er haben wir gegen Nazis demonstriert. Karl-Heinz Hoffmann, Michael Kühnen, klingelt da was? Der Bückeburger Prozess?

Sehen Sie, da war ich als Prozessbeobachterin dabei. Den Angeklagten wurde übrigens u. a. vorgeworfen, niederländische Soldaten auf dem Truppenübungsplatz Munster überfallen und dabei vier Maschinenpistolen und Munition erbeutet zu haben. Jener Truppenübungsplatz, gegen den die norddeutsche Friedensbewegung schon viele Jahre zuvor protestiert hatte. Mit einem Spaziergang!

Und jetzt, in meinem fortgeschrittenen Alter, wollen Sie mir, bzw. der erstaunten Öffentlichkeit, weismachen, ich (und meinesgleichen) würden „den Staat delegitimieren“, wären also staatsfeindlich, sprich rechts oder gleich Nazi?

Weil ich nach wie vor den Abbau demokratischer Rechte kritisiere, gegen Krieg und Waffenlieferungen protestiere, die zunehmende Armut skandalisiere, zudem E-Autos nicht für den großen ökologischen Wurf halte und nicht neben einem Windrad wohnen möchte?!

Echt, jetzt? 

Meines Erachtens ist Kritik an der Regierungspolitik in einer Demokratie unverzichtbar. Genau deswegen gibt es eine Opposition im Parlament und unzählige Proteste außerhalb des parlamentarischen Geschehens. Die inner- und außerparlamentarische Opposition ist eine der Säulen der Demokratie, des Rechtsstaats.

In ihren Augen delegitimieren wir den Staat; ich würde sagen, wir stellen dessen Herrschaftsanspruch in Frage. Mit demokratischen Mitteln.

Sie demontieren den Rechtsstaat. Und dazu nutzen Sie die Macht ihres Amtes.

Ein (oberster) Verfassungsschützer, der diese Säulen der Demokratie als Gefahr betrachtet, ist in meinen Augen die wirkliche Gefahr für einen Rechtsstaat.

Herzliche Grüße

Eine berufsmäßige Staatsdelegitimiererin

 

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