Wer war Philipos Tsanis?

 

 


 Text: Birgit Gärtner

Der Lebensweg eines sensiblen jungen Künstlers, der der Welt sicher noch viel zu sagen gehabt hätte - wäre er nicht gewaltsam für immer zum Schweigen gebracht worden

Philipos Tsanis wurde in der Nacht vom 22. Zum 23. Juni 2024 im Kurpark Bad Oeynhausen zu Tode geprügelt, ein paar Tage später ist er verstorben. Er wurde noch eine Weile künstlich am Leben gehalten – weil er Organspender war und passende Empfänger gefunden werden mussten.

Der Junge, der brutal von einer Horde junger Männer um sein Leben gebracht wurde, das er größtenteils noch vor sich hatte, rettet also sogar noch posthum das Leben anderer.

Als Mensch, als ehemalige Mindenerin – das Ratsgymnasium haben auch Freunde von mir besucht und in Philipos Alter haben wir viel und gern in der Gegend gefeiert – als Mutter, deren Sohn dort geboren wurde und der sich ebenfalls als Jugendlicher in dem Raum bewegt(e), geht mir diese Tat sehr nahe.

Noch sprachloser als die Tat an sich, macht mich die Gleichgültigkeit, mit der die Allgemeinheit darüber hinweg geht. In der tiefsten Provinz prügelt eine Horde Gewalttäter einen jungen Mann zu Tode – und niemanden interessiert es.

Business as usual!

Oder lässt die Mehrheit das kalt, weil immer mehr Deutsche immer weniger Kinder haben – inklusive der Politikdarstellerinnen und Politikdarsteller in Berlin

Diese Gewalttat ist kein Einzelfall. Wir alle könnten Philipos Eltern oder Geschwister, Tanten, Onkel, Großeltern sein. Ist Euch das klar?

„Hanau ist überall!“ Diesen an einen Stromkasten gesprühten Spruch lese ich fast täglich auf dem Weg zur Bushaltestelle.

Dieser Spruch ist blanker Unsinn.

Hanau ist NICHT überall.

Ja, es gibt Rassismus und Diskriminierung. Viel zu viel – und leider bisweilen auch tödlich. In Hanau war es genau andersrum: Nicht zehn prügelten einen zu Tode, sondern ein Mann mit einem mehr als kruden Weltbild brachte aufgrund dessen zehn Menschen um.

Ein tragischer Fall, der aber eben – glücklicherweise – nicht Alltag ist.

Bad Qeynhausen indes ist überall. Philipos und sein Freund, der nicht so schwer verletzt wurde, sind nicht die einzigen, die am Wochenende Opfer brutaler Gewalt wurden.

Ich für meinen Teil möchte mich mit der immer alltäglicher werdenden Brutalität in aller Öffentlichkeit nicht abfinden, die wirklich jede und jeden treffen kann. Am Wochenende wurde beispielsweise irgendwo ein alter Mann von einem völlig Fremden vom Bahnsteig auf das Gleis geschubst, von den inzwischen Normalität gewordenen Messerstechereien gar nicht zu reden.

Auch Philipos hat übrigens den berühmten „Migrationshintergrund“. Anscheinend den falschen. Anders kann ich mir das ohrenbetäubende Schweigen der ansonsten immer lauten antirassistischen Szene nicht erklären.

Oder wäre die Reaktion eine andere, wenn die Täter als blond, blauäugig und akzentfrei deutsch sprechend beschrieben worden wären?

Philipos hat griechische Wurzeln. Griechinnen und Griechen gibt es seit eh und je in Minden. Als ich ungefähr so alt war wie Philipos geworden ist, machte der wohl erste ausländische Gastrobetrieb in Minden überhaupt auf: Der griechische Imbiss neben dem Weser-Kolleg, oben an der Martini-Treppe. Noch heute habe ich den Geschmack der Pita auf der Zunge.

Wenn wir schick essen gehen wollten, ging es in die „Alte Münze" am Friedenplatz, ebenfalls seit eh und je ein griechisches Lokal.

Vielleicht waren italienische Restaurants früher als griechische da, aber die griechische Küche hat uns alle genauso geprägt. Lange, bevor es an jeder Ecke Döner zu kaufen gab. Wogegen natürlich an sich auch nichts einzuwenden ist. Der Siegeszug von „Halāl“-Food und damit verbunden die Etablierung eines Lebensstils wie in Saudi-Arabien, ist ein anderes Thema.

Außer den griechischen hatte Philipos polnische Wurzeln. Zugewanderte polnisch-stämmige Menschen gehören zu NRW wie Schimanski zum Tatort. Beide Ethnien zeichnet aus, dass sie selten durch Gewaltexzesse in Erscheinung treten (im Gegensatz zu Schmanski, aber der TV-Kommisar war ja nur eine fiktive Gestalt). Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Philipos und sewin Freund nicht mit einer Gruppe junger Männer "in Streit geriet", sondern von denen angepöbelt und angegriffen wurden.

Der Klimawandel soll aufgehalten werden, um der Jugend eine Zukunft zu ermöglichen. Bevor wir uns an das Unmögliche machen, sollten wir vielleicht der Gewalt im öffentlichen Raum Einhalt gebieten. Damit unsere Kinder und Enkelkinder, Nichten und Neffen, oder Nachbarskinder gefahrlos feiern, Bahn fahren oder in die Schule gehen können.

RIP Philpos!

Die meisten Verstorbenen hinterlassen außer in ihrem direkten Umfeld keine Spuren ihres irdischen Daseins. Vor allem in jungen Jahren Verstorbene. Nicht so Philipos Tsanis, der in der Nacht vom 22. Zum 23. Juni 2024 im Kurpark Bad Oeynhausen zu Tode geprügelt wurde. Nur 20 Jahre wurde er alt, doch schon als 17jähriger hatte er sich unter dem Pseudonym Swagboypi einen Namen als Musiker und Musikproduzent gemacht. 100.000 Follower in sozialen Medien hatte der junge Künstler.

Einige Rap-Kollegen veröffentlichten erschütterte Statements zu Philipos s Tsanis Ermordung, viele Menschen demonstrierten ihre Anteilnahme an seinem Schicksal, indem sie Blumen am Tatort im Kurpark Bad Oeynhausen niederlegten und der Rat der Stadt Minden gedachte seiner am Mittwoch nach seinem gewaltsamen Tod mit einer Schweigeminute.

Geboren wurde Philipos Tsanis als Sohn der polnisch-stämmigen Joanna Steinmann und des griechisch-stämmigen Dimitris Tsanis. Das Paar hat drei Kinder, außer Philipos und Tochter Chanel noch einen älteren Sohn. Die Eltern trennten sich, als Philipos noch recht klein war, leben beide in neuen Partnerschaften und haben weitere Kinder.

Musikalisches Talent

2018 veröffentlichte Philipos Tsanis sein erstes Musikstück, allerdings nur im privaten Rahmen, wie er 2021 in einem Interview verriet. Wie viele Jugendlich saß auch er oft und gern am PC und zockte. Dadurch kam er zufällig mit anderen Musikern in Kontakt, die seine Stücke gut fanden und seine Ambitionen unterstützen, professioneller Musiker zu werden. So fand er schließlich seinen Platz in der Community der jungen Rapper, deren Stücke weniger durch provokante Texte, sondern durch elektronisch erzeugte Musik auffallen. Dafür werden in aller Regel bereits existente Musikstücke (von anderen?!) gesampelt, also gemischt – häufig ohne Rücksicht auf Urheberrechte. Philippos Tsanis spielte eigene Gitarrenstücke ein und mixte sie.

Zu seinen musikalischen Vorbildern gehörten u.a. die US-Rapper Lil Peep und Juice WRLD. Lil Peep starb im November 2017 mit 21 Jahren, Juice WRLD im Dezember 2019, ebenfalls mit 21 Jahren. In beiden Fällen wird Drogen- und Medikamentenmissbrauch als Ursache genannt. Lil Peep gilt als eines der Opfer der Opioid-Epidemie in den USA; in seinem Blut wurde ein heftiger Medikamenten- und Drogenmix, u.a. Spuren von Fentanyl, festgestellt.

Drogen sind ein häufiger, aber nicht automatischer Begleiter einer Musikerkarriere. Von Philipos Tsanis ist in dieser Hinsicht nichts bekannt. Mit seinen Idolen verbanden ihn die Leidenschaft für Musik, z.T. der Hang zu melancholischen Texten und leider auch der frühe Tod. Dessen Ursache aber eben nicht ein Drogenexzess war, sondern brutale Gewalt.

Die nicht ganz grenzenlose Toleranz der Mutter

Sein musikalisches Talent hat er vermutlich von seiner Mutter geerbt. Diese wurde als Joanna Perczyk 1976 in Polen geboren und studierte polnische Philologie. 2003 wanderte sie nach Deutschland aus und machte eine Ausbildung zur Raumausstatterin. Diesen Beruf übt sie mittlerweile als Selbständige mit eigenem Geschäft in Porta Westfalica aus. Seit mehr als 10 Jahren tourt sie zudem als Comedienne durch die Lande, organisiert in Porta Westfalica Kulturevents und bewarb sich mit einem eigenen Song „Rosa forever“ für den Eurovision Song Contest (ESC) 2022 in Turin. Frauensolidarität hin, Lokalpatriotismus her, die Welt kann froh sein, dass wir noch bis 2024 warten mussten, bis ein Ostwestfale Deutschland beim ESC in Malmø vertreten durfte.

Joanna Steinmann engagiert sich gegen Rassismus, hilft – vorwiegend Kindern – sowohl nach Umweltkatastrophen in Deutschland als auch in Flüchtlingslagern auf der griechischen Insel Lesbos. Toleranz und Vielfalt scheinen ihr wichtige Werte zu sein, die sie auch an ihre Kinder weiter gibt.

Nur Anfang 2021 stieß ihre Toleranz indes kurzfristig an ihre Grenzen: Voller Überzeugung ließ sie nicht nur sich, sondern auch ihre Kinder gegen COVID-19 impfen, deren Beschwerden wurden dabei billigend in Kauf genommen, wie ihren Einträgen in sozialen Netzwerken zu entnehmen ist, sie machte voller Inbrunst Werbung für das BioNTech-Serum – und ging verbal auf Kritiker der Maßnahmen und des „Weltexperiments“ los: „Jeder der keine Maske anzieht und Impfung verweigert ohne triftigen Grund ist für mich einfach Grab Treter“, schrieb sie auf ihrem Facebook-Profil.

„Weltexperiment“, so nannte der Virologe Alexander Kekulé die medizinische Behandlung von Millionen Menschen auf der ganzen Welt mit einem unzureichend getesteten, in einem völlig neuen Verfahren hergestellten Präparat in einem seiner MDR-Podcasts.

Joanna Steinmann rührte indes nicht nur die Werbetrommel und beschimpfte Kritiker und Skeptiker, sondern die offenbar praktisch veranlagte Portanerin stieg in das Maskengeschäft ein. Sie schaffte Arbeitsplätze und im Eiltempo wurden Stoffmasken produziert, die u.a. in Minden verkauft wurden.

Als im Februar 2022 Russlands Präsident Wladimir Putin seine Truppen in der Ukraine einmarschieren ließ, tat sie, was die Mehrheit der Bevölkerung, Medien und Politik tat: Der Schalter wurde umgedreht, Corona war passé, jetzt hieß es Ukraine-Solidarität. Wieder bewies Joanna Steinmann, dass sie nicht nur redet, sondern handelt: Sie organisierte Hilfstransporte für ukrainische Geflüchtete, die in Polen aufgenommen wurden, brachte die Güter selbst zum Bestimmungsort und schaffte in ihrem Haus Platz für vier ukrainische Frauen. Bei ihrem Engagement bezog sie auch ihre Kinder mit ein, wie einem Beitrag im Mindener Tageblatt zu entnehmen ist. Zumindest sind auf dem Bild zu dem Artikel Philippos Tsanis und sein jüngerer Halbbruder zu sehen.

Ihr musikalisches Talent vererbte sie nicht nur ihrem Sohn Philipos, sondern auch ihrer Tochter Chanel, wie diese mit einem Duett mit einer Freundin im Jazz Club Minden unter Beweis stellte. Chanel war die Jubilarin, zu deren Ehren Philippos an der Abifeier in Bad Oeynhausen teilnahm.

Der Tatverlauf

In einem Welt-Interview schilderte Dimitris Tsanis die Tat folgendermaßen:

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Mein Sohn und sein bester Freund waren bei der Abifeier meiner Tochter. Sie haben die Feier einmal kurz verlassen, um einen Freund vom Bahnhof abzuholen. Das sind Luftlinie gerade mal 200 Meter. Philipos ist dann noch mit seinem besten Freund draußen geblieben, um eine zu rauchen. Dann ist diese Gruppe von zehn Personen aufgetaucht.

Diese Leute wollten sich wohl profilieren. Mein Sohn hat noch gesagt: „Lasst uns in Ruhe! Geht weiter!“ Und dann ging es sofort los. Der eine hat ihn zusammengeschlagen, zusammengeprügelt. Und selbst als mein Sohn auf dem Boden war, hat er nicht aufgehört, ihn zu schlagen und zu treten – gegen den Schädel, auf den Nacken, ins Gesicht.

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Bei diesen Schilderungen bezieht Dimitris Tsanis sich auf die Schilderungen besagten besten Freundes seines Sohnes, der krankenhausreif geprügelt wurde, aber recht bald wieder vernehmungsfähig war.

Diese Schilderung steht im Widerspruch zu vielen Medienberichten, denen zufolge die Jungs mit der Gruppe „in Streit geraten“ sein sollen. Mit solchen Gewalttätern gerät niemand in Streit, sondern wird zunächst angepöbelt, oder gleich körperlich attackiert.

Ein von der Familie zur Veröffentlichung freigegebenes Foto zeigt die beiden Geschwister auf der Feier – wenige Stunden vor seinem Tod. Philipos trägt deutlich sichtbar ein großes Kreuz um den Hals. Das lässt darauf schließen, dass Glaube eine große Rolle in seinem Leben spielte. In einem der vielen Medienberichte stand, er sei in der christlichen Flüchtlingshilfe aktiv gewesen. Überprüfen lässt sich das indes nicht. Im April dieses Jahres wünschte er auf seinem Profil in einem sozialen Netzwerk seinen muslimischen Freunden „Eid Mubarak“, übersetzt gesegnetes Fest, in dem Fall Ramadan, bzw. Zuckerfest.

War das Kreuz zu sehen, in der Nacht zum 24. Juni 2024, als Philippos Tsanis vor dem Veranstaltungssaal stand und rauchte?

War es gar ausschlaggebend für die Gewaltorgie eines jungen Syrers, dessen Opfer Philipos Tsanis wurde?

Wird vor Gericht jemand diese Fragen stellen?

Ein sensibler junger Mann

Joanna Steinmann trennte sich von ihrem ersten Mann Dimitris Tsanis, als die Kinder – vor allem Philipos und Chantal – noch recht klein waren. Sie heiratete erneut und als der Halbbruder geboren wurde, war Philipos gerade einmal etwa sieben Jahre alt.

Die Eltern scheinen trotz der Trennung ein gutes Verhältnis zueinander gehabt zu haben: Wenn Joanna Steinmann sich in sozialen Medien über die musikalischen Erfolge ihres Sprösslings freute, kommentierte auch der stolze Vater. Das deutet nicht auf große Familiendramen hin.

Trotzdem scheint das alles an Philipos nicht ganz spurlos vorbei gegangen zu sein: Er sei wohl einfach viel zu viel allein gewesen, mutmaßte er in dem eingangs erwähnten Interview. „Ich war einfach nur sehr traurig und irgendwann hat sich das auch auf meine Musik ausgewirkt“, sagte er. So kamen Liedzeilen wie „bitte legt meinen Laptop mit in mein Grab“ zustande. Als er diese Zeilen schrieb, konnte er nicht ahnen, wie bald das der Fall sein würde.

Im Gegenteil, von Todessehnsucht kann im Zusammenhang mit Philipos Tsanis wohl keine Rede sein. Trotz seiner für sein Alter beachtlichen künstlerischen Erfolge wollte er eine solide Ausbildung und sich somit selbständig machen: Die erste eigene Wohnung und eine Ausbildung zum Hotelfachmann standen an.

Chanel Tsanis und ihre Jahrgangskameradinnen und –kameraden werden ihren Ehrentag auf immer mit dieser schrecklichen Bluttat in Verbindung bringen. Es wird keine Abifeier geben, bei der der Mord an Philipos nicht Thema sein wird. Chanel ist zu wünschen, dass Schmerz und Trauer mit der Zeit durch, wenn auch wehmütige, so doch schöne Erinnerung an ihren Bruder ersetzt und sie in der Lage sein wird, an solchen Feierlichkeiten überhaupt teilzunehmen.

Die Abiturientinnen und Abiturienten haben großartig reagiert und eine Spendenaktion organisiert. Denn der Tod kostet entgegen der landläufigen Annahme nicht nur das Leben – sondern auch richtig viel Geld. Mit den Spendengeldern sollen alle anfallenden Kosten sowohl für Philipos als auch eventuell anfallende Kosten für dessen ebenfalls bei dem Überfall verletzten Freund beglichen werden. Die Aktion war so erfolgreich, dass sie nach kurzer Zeit beendet werden konnte.

Wer ist Mwafak A.?

Als Tatverdächtiger wurde unterdessen Mwafak A., ein 18jähriger Syrer mit einem ellenlangen Strafregister, darunter auch Gewaltdelikte, verhaftet. Laut Focus schlägt und tritt“ der Angreifer „offenbar wie von Sinnen auf T. ein. Freunde versuchen vergeblich, den Schläger wegzuziehen.“

Das Mindener Tageblatt (MT) rekonstruierte die Biographie des Tatverdächtigen. Demnach kam Mwafak A.

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Aufgrund einer Familienzusammenführung mit Eltern und Geschwistern […] der Beschuldigte 2016 nach Deutschland. … Nach der Immigration lebt der Syrer mit seinen Verwandten im Dezember 2016 in einer kleineren Asylunterkunft. Dabei handelt es sich um kleine Wohneinheiten.

Rund ein Jahr später ziehen die Syrer in eine städtische Anschlussunterbringung und bekommen eine Drei-Zimmer-Wohnung.

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Der Stadt zufolge habe der Flüchtling bei Schuleintritt zunächst eine Vorbereitungsklasse besucht. „Für Kinder und Jugendliche sei das ein standardmäßiges Integrationsangebot, betont ein Sprecher.“ Später habe der Syrer mehrfach die Schule gewechselt, heißt es. MT-Informationen zufolge „soll er dabei einer Berufsschule verwiesen worden sein. Der Vorwurf: unangepasstes Verhalten. Die Schule äußerte sich auf Anfrage nicht dazu.“

Dem Blatt zufolge hatte der Jugendliche

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Beratungskontakte … mit dem Jugendmigrationsdienst beim Internationalen Bund. Der Verein unterstützt eigenen Angaben zufolge junge Menschen mit Migrationsbiografie bei der sprachlichen, schulischen, beruflichen und gesellschaftlichen Integration. „Er wollte seinen Hauptschulabschluss an einer Schule in Trägerschaft des Internationalen Bunds in Pforzheim nachholen“, informiert ein Stadtsprecher.

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Mwafak A. begann dem MT zufolge

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im April 2023 ein Freiwilliges Soziales Jahr in einem Krankenhaus in der Stadt Mühlacker. Er bricht es jedoch vorzeitig ab. Seine Familie hat eine andere Wohnung gesucht und in Bad Oeynhausen gefunden. Dort lebende Verwandte sollen sie unterstützt haben, heißt es.

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Dort lebte er anscheinend unauffällig, die Familie bezog bis auf ihn selbst keine Sozialleistungen und er nahm ein Angebot des Jobcenters an, absolvierte ein Praktikum und hatte Aussicht auf einen Ausbildungsplatz, mit dem er die Abhängigkeit vom Jobcenter hätte beenden können.

So weit, so gut. Ein junger Mann mit – sicherlich schwieriger – Migrationsbiographie, geprägt durch Krieg und Vertreibung in seinem Herkunftsland. Ein junger Mann, der nichtsdestotrotz bestrebt ist, in dieser Gesellschaft seinen Platz zu finden, verschiedene Bildungs- und Ausbildungsangebote wahrnimmt und in seiner Freizeit Fußball spielt. Auf dem Fußballplatz verswucht er sich zu profilieren, aber als gewalttätig fällt er nirgendwo auf.

Die nicht ganz gewaltlose Biographie des Tatverdächtigen

Tatsächlich? Nirgendwo?

Laut MT werden ihm „Gewalt-, Eigentums- und Betäubungsmitteldelikten in Pforzheim und Bad Oeynhausen“ vorgeworfen.

Das wird in einem Artikel im Westfalen-Blatt folgendermaßen konkretisiert:

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Gegen den Syrer, der 2016 als Zehnjähriger im Zuge des Familiennachzugs nach Deutschland gekommen war, hatte es mehrere Verfahren gegeben: 2020, da war er 14, stand er im Verdacht, acht Diebstähle begangen zu haben. 2022, da war er 16, gab es schwerere Vorwürfe: Es gab Ermittlungen wegen versuchter Vergewaltigung, wegen sexuellen Kindesmissbrauchs, wegen Hausfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung. Eine Person, die offenbar mit den Akten vertraut ist, sagt, der Syrer solle jemandem mit einem Schlagstock auf den Kopf geschlagen haben.

Ein Jahr später, 2023 gab es Ermittlungen wegen schweren Diebstahls in fünf Fällen.

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Auch in NRW wurde gegen ihn ermittelt, und zwar „wegen eines Automatenaufbruchs […] und im Rheinland soll angeblich noch ein Verfahren wegen Widerstandes gegen eine Amtsperson laufen.“

Allerdings wurden diese Verfahren eingestellt. Warum, darüber kann nur spekuliert werden, denn, so das Westfalen-Blatt:

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Warum alle Verfahren eingestellt wurden – dazu wollte der stellvertretende Sprecher der Behörde nicht sagen.

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Dem Blatt zufolge sollen nun alle Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Bielefeld gebündelt werden. Die hat unterdessen Anklage wegen vollendeten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung erhoben. Da im juristischen Sinne alle etwaigen Straftaten dem Vorwurf „vollendeter Totschlag“ nachrangig sind, wird den übrigen Tatvorwürfen nicht mehr nachgegangen – auch denen der versuchten Vergewaltigung und der sexuellen Gewalt gegen Kinder.

Wer soll das bezahlen?

Während sich ein Team um den bekannten Marler Strafverteidiger Burkhard Benecken und dessen Vater Siegfried um den Tatverdächtigen kümmert, müssen die mutmaßlichen Opfer der Sexualdelikte sehen, wo sie bleiben. Zunächst war der Anwalt Bariş Devletli aus Bad Oeynhausen als Pflichtverteidiger ernannt, die Kanzlei Benecken kam später dazu. Laut NW gilt die „Kanzlei Benecken & Reinhardt in Marl“ als eine „der renommiertesten Strafrechtskanzleien der Bundesrepublik“.

Bad Oeynhausen, wo die Familie des Tatverdächtigen jetzt lebt, liegt ca. 170 km von Marl entfernt. Die Kanzlei des Promi-Strafverteidigers ist nicht nur relativ weit entfernt vom Wohnort, sondern auch nicht ganz billig, wie Burkhard Benecken unumwunden zugibt. In einem Gespräch mit der Neuen Westfälischen (NW) betont der Anwalt: „Die Beweislage ist keinesfalls eindeutig“. Weiter dazu äußern möchte er sich indes nicht. Nur, dass die Zeugenaussagen „grundlegend auseinander“ gingen. Die meisten Zeugen hätten dem Alkohol zugesprochen – was sie in den Vernehmungen auch zugegeben hätten.

In einem Welt-Interview wird Burkhard Benecken gefragt, wie der Anwalt und seine Mandantschaft zueinander gefunden hätten. Er habe zunächst eine Pressemitteilung gesehen. „Und aus Erfahrung schon fast vermutet, dass der Fall bei uns landen wird“, so der Anwalt. Und tatsächlich habe sich dann die Familie des Mandanten bei ihm gemeldet. „Sie hatten sich wohl erkundigt, wer denn solche Fälle häufig bearbeitet. Nachdem unser Kanzlei-Name mehrfach genannt worden war, dachten sie sich, da gehen wir mal hin. So sind wir ins Spiel gekommen.“

Den Tatverdächtigen „pro bono“, also umsonst, zu verteidigen, sei nicht in Frage gekommen. Er habe der Familie „von Anfang an offen und ehrlich“ erläutert, dass seine anwaltliche Vertretung nicht ohne entsprechendes Honorar zu haben sei. Die Welt fragte:

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Wie funktioniert das in solchen Fällen? Sie sind als Kanzlei mit hohem Renommee ja sicherlich nicht günstig.

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Burkhard Benecken antwortete:

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Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Fall vor einigen Jahren, bei dem alle Beteiligten Hartz IV bezogen haben. Da mussten wir eine Kaution von 180.000 Euro stellen. Die Familie, die sehr groß war, hat dann gesammelt. Auch im europäischen Ausland, bei anderen Familienangehörigen. Alle haben etwas in den Hut geworfen, und tatsächlich hatten wir nach zwei Tagen die 180.000 Euro zusammen.

Es ist auch durchaus üblich, dass sich Geld geliehen wird, das dann abgestottert wird, teilweise über Jahre.

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Burkhard Benecken wies in der Welt darauf hin, dass die Spekulation „wer weiß, wie viel Geld die haben“ in die Debatte „wirklich nicht hinein“ gehöre.

Die Vermögensverhältnisse der Familie des Tatverdächtigen stehen nicht zur Debatte. Das ist richtig. Im Prinzip. Aber eine mehrköpfige Flüchtlingsfamilie, deren Sohn in Bezug von Sozialleistungen stand, die trotzdem die Mittel für einen bekannten Strafverteidiger aufbringen kann, wirft bei mir viele Fragezeichen auf. Von wem wird sie finanziell unterstützt? Wirklich nur von Familienmitgliedern, wohl situierten Bekannten oder wird sie das Honorar tatsächlich vermutlich nicht über Jahre, sondern über Jahrzehnte abstottern? Welcher Anwalt lässt sich darauf ein?

Gibt es möglicherweise andere Kreise, die der Familie finanziell unter die Arme greifen? Falls ja, wer und warum? Vermutlich werden auch diese Fragen im Rahmen des Verfahrens niemals gestellt werden. Dabei hängen sie aber möglicherweise sehr eng mit der Frage nach der Motivation des Tatverdächtigen – und somit nach dessen Sozialisation und Umfeld – zusammen.

Mwafak A. schweigt sich so weit bekannt bislang aus. Freiwillig. Im Gegensatz zu Philipos, der gewaltsam für immer zum Schweigen gebracht wurde – obwohl er der Welt sicher noch viel zu sagen gehabt hätte …